Linke wollen uns das Denken verbieten



Frei von Vorurteilen: Die sieben Irrtuemer der Rechten
Nr. 48 – 29. November 2018

Linken wird allerhand nachgesagt: dass sie keinen Humor haetten oder dass sie vor lauter politischer Korrektheit nicht mal einen Orgasmus richtig geniessen koennten. Hoechste Zeit, die populaersten Unterstellungen zu widerlegen.



Linke wollen uns das Denken verbieten Illustrationen: Marcel Bamert

Linke haben keinen Humor

Linke haben schlechten Sex

Linke betreiben nur noch Identit;tspolitik

Linke wollen das Volk umerziehen

Linke zahlen keine Steuern und leben vom Staat

Linke sind realit;tsfremd

Linke wollen uns das Denken verbieten
«Gr;ezi, wir sind von der Gesinnungspolizei und w;rden gern mal Ihre Gedanken kontrollieren.» Klingt wie ein Schweizer Film, der sich im dystopischen Fach versucht. Aber einem beliebten Refrain der Rechten zufolge ist das l;ngst Realit;t. Linke, so geht die Litanei, wollen uns diktieren, wie wir zu sprechen h;tten. Und weil die Sprache bekanntlich ans Denken gekoppelt ist, wollen sie «uns» also de facto auch vorschreiben, was gedacht werden darf – und vor allem: was nicht.

Endstation Denkverbot, der rhetorische Gulag in den Klagen der Rechten ;ber die politische Korrektheit.

Nun leben wir in einer Zeit, wo jeder Schmarren nicht bloss gedacht, sondern auch ge;ussert wird – und oft genug wird ge;ussert, ohne dass vorg;ngig ;berhaupt gedacht wurde. Mehr noch: Dank sozialer Medien und anderer Multiplikatoren im Netz erzielt noch der gr;bste Unfug potenziell eine Reichweite, wie sie fr;her nur etablierten Medienorganen vorbehalten war. Von albernen Bagatellen bis zu schierer Menschenverachtung kann jede ;usserung ein Massenpublikum erreichen. Aber je gr;sser die Freiheit, desto gr;sser ist wohl auch die Angst, sie k;nnte beschnitten werden. Und so geht im ;ffentlichen Diskurs mehr denn je die M;r um, wonach eine linke Sprachpolizei unser aller Meinungs;usserungsfreiheit einzuschr;nken trachtet.

Keine Frage: Sagen kann man alles, denken sowieso. Linke wollen keine Sprachverbote installieren, sie halten bloss an einem vielleicht etwas altmodisch scheinenden Ideal fest: dass wir n;mlich Rechenschaft schuldig sind f;r das, was wir von uns geben – und auch daf;r, wie wir es sagen. Wenn nun einer ums Verrecken das Wort «Neger» im Mund f;hren will, soll er das selbstverst;ndlich tun d;rfen. Aber er soll dann nicht winseln, wenn man ihn deswegen ein rassistisches Arschloch nennt. Und er muss es auch aushalten, wenn man ihn zur Rede stellt, wieso er so verdammt scharf darauf sei, ein derart diskreditiertes Wort mit allem, was es an historischem Gewicht mit sich tr;gt, unbedingt gegenw;rtig zu halten.

Abgesehen davon: Wie schwach und hilflos muss eigentlich ein Denken sein, dass es sich davor f;rchtet, irgendeine dunkle Macht k;nnte es mit Verboten knechten? Wer sich ;ber Denkverbote beklagt, hat aus lauter Bequemlichkeit selber zu fr;h mit Denken aufgeh;rt. Denkverbote gibt es nicht, selbst das repressivste Regime hat zum Gl;ck noch keine wirklich funktionierende Gedankenpolizei erfunden.

Letztlich ist die Rede von drohenden Denkverboten ohnehin ein reines Alibi, ein klassisches Strohmannargument. Die Linken, die unsere Sprache und unser Denken s;ubern wollen: Das ist in erster Linie ein rhetorischer Kniff der Rechten, um die eigenen Verst;sse gegen die vorgeblich herrschende Sprachkontrolle zu heroisieren, also die rechte Position als rebellisch zu verkaufen: Seht her, wie furchtlos wir gegen linke Sprachvorschriften verstossen! Der Mut, den man sich so kaufen kann, ist nicht billig. Er ist gratis.

Florian Keller

Linke haben keinen Humor
«Warum Linke keinen Humor haben»: So lautete schon 2009 der Titel zu einem Artikel von Jan Fleischhauer. Der «Spiegel»-Redaktor, der im selben Jahr mit seinem Buch «Unter Linken» seine Konversion vom Linken zum Rechtskonservativen feierte und damit einen Bestseller landete, bezog sich hierbei auf das politische Kabarett, das in seinen Augen zur «linksp;dagogischen Spassanstalt» verkommen war. Fleischhauer zitierte dazu den noch reaktion;reren Schriftsteller Martin Mosebach, nach dessen Ansicht von Linken «schon im zweiten Satz» verlangt werde, «dass ihnen das Lachen im Halse stecken bleiben m;sse». Dies also, so folgerte Fleischhauer, sei der «humorpolitische Imperativ», der ;ber allen Linken schwebe und sich aus dem Anspruch an die linksideale Lebensf;hrung ergebe: Nur ja kein Spass an schnellen Autos, saftigen Steaks – und schon gar nicht an billigen, unintellektuellen oder gar dreckigen Spr;chen! Wogegen der rechte Mensch sich ungehemmt ;ber dies und das lustig machen k;nne, da er ja eh schon «als von der Welt verdorben» gelte, «weshalb ja auch nach der Macht;bernahme des Sozialismus das Umerziehungslager auf ihn wartet».

Was Fleischhauer vor bald zehn Jahren in die Welt posaunte, geh;rt unter Rechten l;ngst zum Kanon. Wobei es sich wohl um ein kleineres, aber durchaus entscheidendes Missverst;ndnis handelt. Allein die Tatsache, dass linke Menschen eher ungern ;ber rassistische, sexistische oder ;hnlich motivierte Witze lachen, heisst noch lange nicht, dass sie generell humorlos sind. Zwar gibt es auch in der Linken brutal humorlose Menschen – aber genau wie bei den Rechten sind sie am ehesten unter den HardcoreideologInnen anzutreffen. ;berhaupt l;sst sich ohne Zweifel sagen, dass sich Ideologie und Humor eher schlecht vertragen, wenn nicht gar gegenseitig ausschliessen.

Das entscheidende Missverst;ndnis hinter der rechten These, wonach Linke keinen Humor h;tten, liegt aber woanders: Humor, der nicht auf Kosten von Menschen geht, die sowieso schon diskriminiert werden, ist oft etwas komplexer. Eine Grundvoraussetzung daf;r ist die F;higkeit zur Selbstironie, also die F;higkeit, ;ber sich und seine eigenen Schw;chen zu lachen. In einer Welt jedoch, in der es in vielen Salons wieder vermehrt zum lustigen Ton geh;rt, sich ;ber die Ohnmacht anderer zu erheben, verschieben sich wom;glich auch die Koordinaten des Humors. Da bleibt einem als mehr oder weniger linker Zeitgenossin oder linkem Zeitgenossen zum Gl;ck noch der Exkurs ins Absurde. Und nicht zu vergessen: Die gr;ssten KomikerInnen waren und sind immer noch die, die Mut zeigen und etwas riskieren – indem sie sich (alles andere als «politisch korrekt») ;ber die wirklich M;chtigen lustig machen. Und zwar so ernsthaft, dass deren wahres Gesicht in seiner ganzen H;sslichkeit entlarvt wird. Ja, wirklich guter Humor kann unter Umst;nden ziemlich links und je nach politischer Konstellation ganz sch;n gef;hrlich sein. Fragt sich nur, wem am Schluss das Lachen im Hals stecken bleibt.

Adrian Riklin

Linke haben schlechten Sex
Ein guter Orgasmus ist ein Fall in einen bodenlosen Abgrund, er pulverisiert das Bewusstsein unseres K;rpers oder der anderen K;rper, durch die wir ihn erleben. Beim Sex wollen wir immer wieder in diesen Abgrund, wie in der religi;sen oder in der drogeninduzierten Ekstase sehnen wir uns letztlich nach Selbstaufl;sung, nach ;bertretung all der Grenzen, die unsere Person ausmachen – k;rperliche, psychische, soziale. F;r den Philosophen Georges Bataille hat die sexuelle Versuchung mit der Grundveranlagung der menschlichen Existenz zu tun: In unserer st;ndigen M;he der Selbsterhaltung entsteht auch die Sehnsucht, in manchen Momenten in einer urspr;nglichen Kontinuit;t aufzugehen, von der wir uns st;ndig abheben. Diese Bedeutung hat der Orgasmus in einem franz;sischen Ausdruck: «la petite mort», der kleine Tod.

Aber so einfach ist es leider – oder zum Gl;ck? – nicht. Denn da sind all die Diskontinuit;ten, die in diesem Haifischbecken von K;rpern am Werk sind: Unsicherheiten, Fetische, Perversionen, die Verstrickung in Machtbeziehungen zwischen Geschlechtern und sexuellen Identit;ten. Paradoxerweise spielt das Selbst auf dem Weg zu jenen Momenten der Selbstaufl;sung ja gerade ganz fest eine Rolle – wer wir sind und welche Macht wir erleben und aus;ben. Vor allem davon haben Linke naturgem;ss mehr Ahnung, oder zumindest ein st;rker ausgepr;gtes Bewusstsein daf;r. Wir wissen, dass Spiele nur dann lustig sind, wenn alle Beteiligten freiwillig mitspielen und mit den Regeln einverstanden sind. Und wir wissen, dass aus der sexuellen Lust an Unterwerfung kein Recht auf Erniedrigung erw;chst.

WOZ Die Wochenzeitung: Antifascist Intelligence. Jetzt abonnieren!
Aber erm;glicht uns das Bewusstsein f;r die Verstrickung von Sexualit;t und Macht nicht auch, das Spiel damit auf noch obsz;nere Weise zu geniessen? Es ist doch ein bisschen wie mit der Sorge um den Planeten oder dem Kapitalismus: Klimasch;digende Roadtrips unternehmen, Sneakers als Statussymbole tragen, Musik von abscheulichen Bands h;ren – leider geil! Szenen aus Pornos nachstellen, sich beim Sex Dinge sagen, die man sich sonst nie zu sagen trauen w;rde, mit Gewalt spielen – leider geil!

Aber es geht nicht nur um dieses obsz;ne Geniessen, sondern ;berhaupt darum, Sex als Spiel zu erkennen, das sich von der Macht, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen wirkt, zwar nicht l;sen, aber doch entfremden kann. Meistens ging es mir zum Beispiel so, dass meine Sexpartnerinnen mich dominanter wollten, als ich zu sein glaubte. Jedenfalls hatte ich bis dahin noch nie jemanden geschlagen ausser meinen Bruder, wenn wir uns als Kinder gerauft hatten. Aber ich habe irgendwann kapiert, dass man in sexuellen Praktiken gesellschaftliche Machtverh;ltnisse nicht nur verk;rpert und aktualisiert, sondern sie auch bew;ltigt und damit spielt – vor allem, wenn man die Spiesse immer wieder umdreht.

Doch die Momente der Selbstaufl;sung w;hren nur kurz, sie leben auch vom Come-down, w;hrend dessen wir wieder zu der Person werden, die wir waren. Doch leuchtet auch in diesen Momenten ein utopisches Potenzial auf, das emanzipatorische Sexualit;t ;ber die Zeit zu verwirklichen sucht. Es ist noch nicht lange her, da war die m;nnliche, heterosexuelle Lust die einzige, ;ber die man ;berhaupt geredet hat, nach der die Welt ausgerichtet war. Wer also allen Ernstes behauptet, politische Korrektheit oder queere Unterwanderungen heteronormativer Vorstellungen von Sexualit;t seien eine Gefahr f;r die Lust, will nichts anderes als ein b;rgerliches Gef;ngnis bewahren – das armselige Gef;ngnis, in dem sich Geb;rmaschinen und promiskuitive Schlappschw;nze tummeln.

David Hunziker

Linke betreiben nur noch Identit;tspolitik
Der Vorwurf kommt nicht nur von rechts, sondern von allen Seiten – und sogar aus den eigenen Reihen: Statt sich um die «echten Sorgen» der «gew;hnlichen ArbeiterInnen» und «einfachen» Leute zu k;mmern, betreibe die Linke von heute nur noch Identit;ts- und Lifestylepolitik, setze sich also ein f;r geschlechtergerechte Sprache, vegane Kantinenmen;s, die Umbenennung von S;ssspeisen und Transgender-WCs.

Spontan muss man hier erst mal dagegenhalten: Excusez, was spricht eigentlich dagegen, Rassismus in allen Winkeln der Gesellschaft zu bek;mpfen oder sich f;r Minderheiten wie Transmenschen, aber auch f;r nach wie vor diskriminierte Mehrheiten wie die Frauen einzusetzen? Bedenklich sind doch viel eher selbsterkl;rte Radikale, die so tun, als ob etwa rassistisch motivierte Polizeigewalt und Sexismus entweder l;ssliche Vergehen seien oder sich gar subito in Luft aufl;sen w;rden, wenn nur erst die Milliard;re enteignet seien und der Klassenkampf gewonnen. Einmal abgesehen davon, dass solche Klassenk;mpferInnen alter Schule von den Rechten nat;rlich erst recht verlacht werden: Was ist denn das f;r eine einf;ltige Idee, dass man sich gef;lligst ausschliesslich f;r das eine oder gegen das andere einzusetzen habe – also strikt f;r den ;konomischen Kampf oder gegen Diskriminierungen. War die Realit;t nicht schon immer eine Einladung f;r etwas komplexere Engagements?

Das dickste Ei aber ist, wie die Rechte hier fix von ihrer eigenen dezidiert identit;tspolitischen Politik ablenkt. Man zeigt mit dem Finger auf andere und kaschiert so geschickt, wie von der SVP ;ber Trump bis hin zu Ungarns Orban stets der weisse Mann ins Zentrum ger;ckt wird – wahlweise als neue Opfergruppe oder als strahlender Verb;ndeter und Profiteur der eigenen Politik. Und auch f;r die «echten Sorgen» der «einfachen Leute» hat man auf der rechten Seite letztlich immer nur eine – ebenfalls identit;tspolitische – Antwort parat: Ausl;nderInnen, «SozialschmarotzerInnen» und Fl;chtlinge seien eigentlich an allem schuld. Dabei bleiben gem;ss Umfragen die gr;ssten Sorgen der «einfachen Menschen» selbst eigentlich seit Jahren dieselben: Rentenabbau, explodierende Gesundheitskosten, Arbeitslosigkeit, Korruption – alles nicht unbedingt Probleme, gegen die sich rechte Parteien im Parlament pflichteifrig einsetzen w;rden.

Was die Rechten allerdings heute definitiv besser k;nnen als die Linken: mit ihrer exklusiv weissen Identit;tspolitik eine radikale ;konomische Umverteilung betreiben. Diese kommt indes kaum den wackeren B;ezern und B;ezerinnen zugute, mit denen man sich vordergr;ndig gern verb;ndet. Denn beim Klassenkampf der Rechten geht es um eine knallharte Umverteilung von unten nach oben – mit Steuererleichterungen f;r die Reichen und Ausbeutung und Rentenklau an den Armen und am Mittelstand. Der Vorwurf, die Linke habe sich weit von den Sorgen der «kleinen Leute» entfernt, ist nur die Nebelwand, mit der die Rechte ihre eigene elit;re Politik verschleiert.

Daniela Janser

Linke zahlen keine Steuern und leben vom Staat
Selbstst;ndigkeit, Eigenverantwortung und Tatkraft: Das sind die Attribute, mit denen sich der Rechte gerne schm;ckt. Um sich selbst zu best;rken, ortet er das Gegenteil, n;mlich Abh;ngigkeit und Faulheit, gerne beim Linken. Was dann meist im beliebten Vorwurf endet, die Linken bezahlten sowieso keine Steuern und l;gen dem Staat auf der Tasche. Nichts ist derart falsch wie dieser Vorwurf.

Um ihn ein f;r alle Mal zu entkr;ften, zieht man am besten das heiligste aller Schweizer Papiere neben Pass und Stimmausweis hervor: die Steuererkl;rung. Hinter diesem n;chternen, b;rokratischen Papier verbirgt sich in der Wortwahl pure Ideologie. Alle, die sich t;glich im Hamsterrad ihres Jobs drehen, m;ssen darin n;mlich Eink;nfte aus «unselbstst;ndiger Erwerbsarbeit» deklarieren. Alle anderen, die ihre Stunden beispielsweise auf dem Golfplatz verbringen, werden von Amtes wegen daf;r als «selbstst;ndig» bezeichnet. In Wirklichkeit verh;lt es sich genau umgekehrt: Unt;tig ist der Chef, der von der Arbeit lebt, die seine Angestellten selbstt;tig verrichten.

Noch klarer wird die Sache, wenn man in der Steuererkl;rung bei den Abz;gen ankommt. Derweil man als sogenannt Unselbstst;ndiger als h;chstes der Gef;hle sein Generalabonnement abziehen darf, kann der Selbstst;ndige alles M;gliche verbuchen: Gesch;ftsessen, Immobilien, vermutlich auch Jachten. Kurzum, diesen Staat finanzieren wir Angestellten, und wenn das Kapital weiter derart grossz;gig entlastet wird wie gerade jetzt wieder bei den Unternehmenssteuern, bleibt das auch in Zukunft so.

Nat;rlich sind nicht alle GA-BesitzerInnen automatisch links und alle JachtbesitzerInnen automatisch rechts – aber grosso modo stimmt es: Vieles, was der Staat ausgibt, kommt vor allem den Interessen der rechten Politik zugute. Man muss dabei gar nicht die Subventionen f;r die Landwirtschaft oder das Milit;r bem;hen. Das gr;sste verdeckte Subventionsprogramm von Gemeinden, Kantonen und Bund ist und bleibt in der Schweiz das Bauwesen. Von den Auftr;gen profitieren die Baukartelle genauso wie die Pensionskassen. Und was tun sie, statt ihre staatliche Abh;ngigkeit endlich zuzugeben? Den Linken wieder vorwerfen, wir lebten in gemeinn;tzigen Wohnungen.

In dem Tempo, in dem Journalist:innen im Gazastreifen von der israelischen Armee get;tet werden, wird es bald niemanden mehr geben, der Sie informiert. #ProtectJournalistsinGaza / #LetReportersIntoGaza / Reporter ohne Grenzen
Kaspar Surber

Linke wollen das Volk umerziehen
Ein Aufschrei ging diesen Sommer durch den Aargau: «Die arme Hanna wird wohl keinen Cervelat mitbringen d;rfen», emp;rte sich SVP-Nationalrat Andreas Glarner auf Facebook. In Hannas Klasse gibt es mehrere Kinder mit f;r Glarner fremdl;ndisch klingenden Namen, woraus er schloss, dass die Schule das Mitbringen von Schweinefleisch verbieten k;nnte. Einen solchen Skandal hatte Glarner zuvor bereits woanders aufgedeckt, worauf er kurz entschlossen 2000 Cervelats spendete. Denn: «Es kann ja nicht sein, dass man unseren Kindern den Cervelat vorenth;lt!»

Wer die Schuld an der Zerst;rung der jahrhundertealten Schweizer Tradition des Cervelatessens tr;gt? Das wusste ein Herr, der sich in einem Onlinekommentar ;usserte, ganz genau: «Es sind vor allem die Linken, die uns dazu n;tigen, uns anzupassen. Die wollen sich als Gutmenschen darstellen, als die Verst;ndnisvollen. Stattdessen haben sie die Realit;t verloren und schiessen ;ber das Ziel hinaus.» Damit sprach er vielen Rechten aus dem Herzen, denn es ist ja nicht nur der Cervelat. Die Linke will das Volk umerziehen: M;tter sollen zur Berufst;tigkeit gezwungen werden, damit man ihre schutzlosen Kinder in den Staatskrippen zu BioveganerInnen heranz;chten kann. AutofahrerInnen werden als Feindbilder stigmatisiert und durch den Abbau von Parkpl;tzen und den Ausbau von Velowegen zum Umsteigen auf Velo oder ;V verdammt.

Gegen solche Hysterie helfen nur ein paar n;chterne Fakten:

Bei Paaren mit Kindern ist in der Schweiz das meistverbreitete Modell immer noch: Mann arbeitet Vollzeit, Frau Teilzeit. Ein Viertel der M;tter mit Kindern unter drei Jahren geht nach der Geburt sogar gar keiner Erwerbsarbeit nach.
Nur rund dreissig Prozent der Kinder unter drei Jahren werden mindestens eine Stunde pro Woche in einer Kita betreut.
In den meisten Tagesschulen und Kitas wird Fleisch zum Mittagessen aufgetischt, wenn auch nicht ;berall t;glich. Der Fleischkonsum der SchweizerInnen ist mit f;nfzig Kilogramm pro Jahr und Person noch immer ;berdurchschnittlich hoch, am meisten gegessen wurde im Jahr 2017: genau, Schweinefleisch.
In den letzten zw;lf Jahren ist der Motorfahrzeugbestand um mehr als eine Million auf ;ber sechs Millionen angewachsen. Ausserdem investiert der Bund 2018 rund 2,3 Milliarden Franken ins Nationalstrassennetz.
Wenn das also die grosse linke Umerziehung sein soll, dann m;sste man sagen: grandios gescheitert. Jedoch spr;chen genug Argumente daf;r, verstaubte Lebensgewohnheiten freiwillig zu ;ndern: Ein bitzeli weniger Fleisch essen schadet bestimmt keinem Kind. Gem;ss einer Studie des Bundes erzeugen FahrradfahrerInnen sozialen Nutzen von zehn Milliarden Franken j;hrlich, weil sie seltener krank sind. Laut einer US-Langzeitstudie sind berufst;tige M;tter gl;cklicher als solche, die zu Hause bleiben, und laut einer Dresdner Studie leiden Kinder, die schon in den ersten zwei Lebensjahren fremdbetreut werden, sp;ter seltener an psychischen St;rungen.

Und ;berhaupt: Das Leben macht schlicht mehr Spass, wenn man offen f;r Neues ist. Nicht die Linke will das Volk umerziehen, sondern die Rechte f;rchtet sich vor jeglicher Ver;nderung des Status quo – und sei es nur der Verlust von drei Parkpl;tzen oder einem Cervelat. Was die Rechte nicht begriffen hat: Zukunft ist nicht die lineare Projektion der Gegenwart. Und vielleicht w;re Hanna ja froh, wenn sie zur Abwechslung statt Cervelat mal Falafel oder Spinatb;rek essen d;rfte.

Silvia S;ess

Linke sind realit;tsfremd
Die Schweiz schlittert geradewegs auf eine Katastrophe zu: der Sozialstaat am Boden, der Arbeitsmarkt ;berrannt, Zersiedlung, Dichtestress, Horror! Schuld daran: nat;rlich der Ausl;nder. Schuld daran ausserdem: die realit;tsfremden Linken, die einfach nicht einsehen, dass nun mal nicht jede und jeder hierherkommen kann, zu uns, die wir halt auch mal f;r uns schauen m;ssen; diese Linken, die ausserdem verblendet genug sind zu glauben, alle h;tten Hilfe und Schutz verdient, auch wenn sie nicht mit dem roten Pass gesegnet sind. Und wenn einer kriminell wird, dann wollen sie ihn immer noch so behandeln, als w;re er ein Mensch.

Fr;her war das anders: die Schweiz ein stolzes Volk von HelvetierInnen, die sich ihren Wohlstand ganz allein erarbeitet haben; die unter sich zufrieden waren, inmitten weisser, anst;ndiger Menschen. Wehrhaft und selbstbestimmt in der W;rme des R;duits, und ab und zu eine herzerw;rmende Tell-Inszenierung. An diesem stolzen Volk ist noch jegliche fremde Kultur abgeperlt, dem Herrgott sei Dank!

Stellt sich nur die Frage, wo sie denn anf;ngt, die «fremde Kultur», die die Schweiz vermeintlich von innen auffrisst. Bei Spaghetti und Sambal Oelek im Migros-Regal? Einer Kopfbedeckung? Oder vier Minaretten?

Im Ernst: Migration ist kein neues Ph;nomen und keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Schweiz ist ein Land der Migration und wird es auch bleiben. Zweifellos muss eine Gesellschaft einen Umgang damit finden. MigrantInnen in die Peripherie abdr;ngen und Asylsuchende in Zentren stecken – ja, leider ist das hierzulande m;glich. Und offenbar kann man Menschen, die seit Jahren hier leben, auch die politische Mitbestimmung verwehren und die H;rden f;r die Einb;rgerung absurd hoch halten. Dann kann man aber gleichzeitig auch niemandem vorwerfen, sich nicht integrieren zu wollen.

Ausl;nderInnenkriminalit;t und die «fremden Kulturen», die angeblich nicht kompatibel sind mit der «unseren», sind Probleme, die hochgekocht werden, um auf dem R;cken von MigrantInnen Politik zu machen. Und ihnen f;r alles M;gliche, das gerade nicht funktioniert, die Schuld zuzuschieben. Zersiedlung, Druck auf die Sozialwerke? Dass damit auch urschweizerische Dinge wie Einfamilienh;user oder Steuersenkungen etwas zu tun haben k;nnten, ist in den Augen der PatriotInnen nat;rlich ausgeschlossen: Der Ausl;nder wars.

Ja, es kostet einiges, Integration zu verwirklichen, viele Menschen aufnehmen zu k;nnen. Und es braucht nicht nur Geld, sondern auch die Bereitschaft, miteinander leben zu wollen. Manchmal muss man dazu vielleicht ein oder zwei Vorurteile ;berwinden. Klar ist jedoch: Migration passiert – realit;tsfremd sind diejenigen, die von einer Schweiz der SchweizerInnen tr;umen, die es nie gegeben hat. Von MigrantInnen zu erwarten, dass sie sich integrieren, w;hrend die Schweiz trotzig in einer Ecke sitzt, sich mit Stacheldraht umgibt und «Ich will nicht!» ruft, wird nicht funktionieren. Wahnsinnig teuer w;re eine offene Migrationspolitik nicht. Und selbst wenn: Die reiche Schweiz kann es sich leisten, in Sachen Solidarit;t etwas reicher zu werden.

Alice Galizia


Рецензии