Vorwort zum Holzferd-2

VORWORT

Ein Denkanstoss kann seinen Empfaenger in gaenzlich unbekannte Gefilde katapultieren.

Im vorliegenden Fall praesentiert der ukrainischstaemmige US-Amerikaner Yury Lobo, ein Vierteljahrhundert seiner Denkanstaesse, genannt "Liliputins".

Inspirieren liess sich Yury Lobo fuer seine Liliputins von Jonathan Swifts beruehmten "Gullivers Reisen", mit denen jener bis heute auch unzaehlige Leser in den Bann einer imaginaeren Insel namens Liliput und der dort lebenden Liliputaner, zog.

Yury Lobo war so von der Geschichte dieser winzigen Menschen fasziniert, dass er das "Liliputin" (Mehrzahl: Liliputins) als treffende Bezeichnung waehlte - fuer seine ungewoehnlichen winzigen Wortspiele, mit denen er schliesslich eine neue epische Kurzform der modernen Literatur kreierte, die wohl dem herkoemmlichen Aphorismus am naechsten kommt.

Das ist schon das zweite Buch mit Liliputins und sicherlich nicht das letzte aus dieser Reihe. Das erste Buch mit dem Titel “Das gefluegelte Holzpferd: Mit Liliputins auf flinken Hufen Durch die Weltgeschichte “ hat 2019 das Licht der Welt erblickt.

Aphorismusfreunde deutscher Zunge werden auf den ersten Blick Aehnlichkeiten der Liliputins mit bekannten "Falsch zugeordneten Zitaten" entdecken, einer epischen Kurzform, die der deutsche Autor Marc-Uwe Kling mit seinen "Kaenguru Offenbarungen" erfunden hat.

Doch spaetestens auf den zweiten Blick zeigt sich - die Unterschiede zu Yury Lobos Liliputins sind gravierend:

Waehrend Kling ein bereits vorhandenes, bekanntes Zitat nutzt, um es einer Person seiner Wahl unterzuschieben, formuliert der Liliputin-Schoepfer seine eigenen Gedankenblitze - wie einen guten Aphorismus - als pointierte Kurzzitate, die entweder auf einer Antithese oder einem wortspielerischen Paradoxon beruhen.

Damit nicht genug.

Der russisch-ukrainische Muttersprachler Yury Lobo - des Deutschen wie des Englischen maechtig - jubelt sein jeweiliges Liliputin auch einer ganz bestimmten Person der Zeitgeschichte (Liliputinist genannt) unter.

Auf den Begriff Anachronismus verzichtet Yury Lobo absichtlich, weil es ihm ermoeglicht, seinen Senf zu Weltereignissen, die laengst passe sind, dazuzugeben.

Yury Lobo legt als Kuckuck seinen Protagonisten Ei-Saetze ins Nest, sprich in den Mund, die sie aufgrund ihres Charakters, ihres Lebenslaufs und ihrer Rolle in der Weltgeschichte genauso geaussert haben ... koennten.

Genau das haben die anscheinend Zitierten jedoch nie getan.

Mit solchen Tricks und Kniffen gibt Yury Lobo seinen, in aller Regel bereits verstorbenen Liliputinisten zudem die Chance, die Gegenwart zu kommentieren.

Mit anderen Worten:

Die Liliputins existieren in einem fast Einsteinschen Zeitraum; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickeln sich gleichzeitig als eine ungeteilte Einheit. Kein Protagonist stirbt als Liliputinist. Alle sind ewige Zeitgenossen der Weltgeschichte.

Yury Lobo wendet sich mit seinen Liliputins an genau jene Leser, die (Mit)Denker und (Mit)Wisser sein und so erfahren wollen, inwiefern der formulierte Gedanke, die Lebensweisheit, das Urteil von anderen stammen k;nnten.

Das Wortspiel, die Pointe des jeweiligen Schein-Zitats erschliessen sich um so schneller, je besser sich der Leser in der vergangenen Welt des falsch Zitierten und in der gegenwaertigen Welt auskennt, wobei angefuegte Randglossen dem Rezipienten gewiss auf die Spruenge helfen.

Wer sich auf diesen historisch- literarischen Deal einlaesst, den erwarten Lesevergnuegen ebenso wie Erkenntnisgewinn. Denn Liliputins und Liliputinisten sind ... niemals artig, mitunter abartig, oft boesartig, aber immer einzigartig.

Sind Liliputins eine besondere Literaturgattung?

Ob Yury Lobos Liliputins als eigenstaendige Literaturgattung, als eigenstaendiges Genre gelten koennen?

Vieles spricht dafuer.

Da ist zuvorderst ihre einzigartige Form. Ihren literarischen Wert beziehen Liliputins aus einem literarischen Koennen, das Bildsprache, Rhythmus und Reim nutzt, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und - genau wie laengere Werke - zum Nachdenken anzuregen, weil sich jedes von ihnen auf eine einzige, wirkungsvolle Idee konzentriert.

Zudem stehen Liliputins in einer historischen und kulturellen Tradition, reihen sie sich doch ein in die Familie von Aphorismen, wie es sie schon seit Jahrhunderten gibt - in Sprichwoertern, Epigrammen und sogar in antiken Graffiti. In verschiedensten Kulturen wurden und werden Aphorismen zum Geschichten erzaehlen und zur philosophischen Reflexion verwendet, wobei stets auch Humor als Katalysator diente, um Lachen und Erkenntnis gleichermassen auszuloesen.

Die besondere Durchschlagskraft von Liliputins beruht auf Wortspielen, Witz und unerwarteten Wendungen, die in einem einzigen Satz ihre Wirkung entfalten. Die klare Form und der die Liliputins  praegende Stil tun ein Uebriges fuer diesen Effekt. Damit bieten sich Liliputins womoeglich sogar als literarisches Mittel an, das in anderen Genres Verwendung finden kann, etwa, um Gedichten und Romanen, ja selbst Theaterstuecken Witz, Ueberraschung oder Betonung zu verleihen.

Einiges spricht sogar dafuer, dass Liliputins zum Mikrokosmos eines groesseren literarischen Trends gehoeren. Die rasante Entwicklung, Verbreitung und Nutzung sozialer Medien und Online-Plattformen tragen aktuell offenbar zur wachsenden Popularitaet von Liliputins bei.

Bieten sie doch ein leicht zugaengliches Format fuer den Austausch praegnanter Gedanken und Beobachtungen, wie ein Blick auf die erstaunlich grosse, staendig wachsende Anzahl von Lesern ( ueber ein Viertel Million) des Autors und Liliputin-Erfinders Yury Slobodenyuk auf dem russischen Literaturportal "stihi.ru"  eindrucksvoll belegt.

Elke Liebre
Redakteurin
2025


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