Wenn die Kaelte klirrt

Wenn die Kaelte klirrt
Von Rolf Schneider | 17.12.2010


Wenn das Thermometer in beunruhigende Minusgrade sinkt, wird alsbald behauptet, nunmehr herrsche klirrende K;lte. Wieso aber klirrend? Das so bezeichnete Ger;usch entsteht, wenn metallene oder irdene Gegenst;nde aneinandersto;en. Das h;rt sich bei K;lte, auch sehr strenger, nicht viel anders an als bei W;rme. Es klirrt hier wie dort. Was also soll bei K;lte klirren? Der Schnee keinesfalls und das Eis auf Fl;ssen und Seen auch nicht; Letzteres knirscht und kracht. Die Kombination von Klirren und K;lte ist Unsinn.
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Beim Verh;ltnis der Sprache zur Wirklichkeit m;chte es um gr;;tm;gliche Ann;herung gehen. Fehlleistungen und Fehlgriffe unterlaufen freilich. Sie unterlaufen immer wieder, was in unserem Zeitalter der elektronisch multiplizierten Geschw;tzigkeit beunruhigende Dimensionen erreichen kann, da der naive Glauben herrscht, dass, was ;ber die Medien kommt, seine formale Richtigkeit haben m;sse, irgendwie, sonst f;nde es doch nicht statt. Derart geschieht, dass sprachliche Unsitten sich ausbreiten und verfestigen.

Etwa die Wendung, jemand, n;mlich ein Einzelner oder eine Gruppe, m;sse oder wolle oder solle oder werde sich neu erfinden. Der bekannte Soziologe J;rgen Habermas sah darin den kitschigsten Slogan des letzten Jahrzehnts. Der Slogan ist nicht blo; kitschig, er ist au;erdem, wie Kitsch sonst auch, ziemlich verfehlt.

Wer sich neu erfindet, m;sste sich, folgend der sprachlichen Logik, schon zuvor einmal erfunden haben. Hat er das? Geht das ;berhaupt? Erfinden ist eine intellektuelle Handlung, die ein Subjekt an einem Objekt vollzieht. K;nnen Subjekt und Objekt zusammenfallen? Bei Ereignissen wie Selbstgei;elung oder Rauschgiftapplikation mag das hingehen. Bei einem Vorgang wie der Erfindung tr;fe es allenfalls zu, wenn dieselbe in Selbstgei;elung oder Rauschgiftapplikation best;nde. Das aber ist mit der Wendung nicht gemeint. Ausgesagt werden soll vielmehr, dass jemand, der sich im beklagenswerten Zustand der Krise oder des Scheiterns befindet, einen Neuanfang probieren m;sse. Alles andere ist Wortget;se und, mit Habermas, erstklassiger Kitsch.

In politischen ;u;erungen kommt seit Neuestem der Markenkern vor. Der Linkspartei sei es um denselben zu tun, man sucht ihn auch bei Unionsparteien und Freidemokraten. Kern ist: ein Inneres, umgeben von einem ;u;eren. Bei Fr;chten und Gem;sen ist der Kern Medium der Fortpflanzung, umgeben von Schale und Fleisch. Der Kern kann auch als Metapher verwendet werden, aber das, was er metaphorisch benennt, m;chte sich zu ihm in einem einigerma;en stimmigen Verh;ltnis befinden.

Was also ist ein Markenkern? Kann eine Marke einen Kern haben? Was ist hier Markenschale oder Markenfleisch? Es gibt Kernmarken bei Unternehmen, die mehrere Marken betreuen, und eine davon ist ihnen bedeutsamer als die anderen. Der Markenkern ist die semantische Umkehrung jenes Begriffs und der bare Nonsens.

Rolf Schneider ist Schriftsteller, Essayist, Publizist und stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift „Aufbau“ in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen „groben Versto;es gegen das Statut“ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausb;rgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Ver;ffentlichungen u. a. „November“, „Volk ohne Trauer“ und „Die Sprache des Geldes“. Rolf Schneider schreibt gegenw;rtig f;r eine Reihe angesehener Zeitungen und ;u;ert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.


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