Staatsmord im Stammheim
Spur Nr. 6 blieb ein Geheimnis
SPIEGEL-Report ;ber Widerspr;che bei der Untersuchung der Stammheimer Selbstmorde Sand aus Mogadischu unter den Schuhen des toten Andreas Baader, »Ver;nderungen« im Gehirn der toten Gudrun Ensslin -- Redereien, die seit dem Selbstmord der H;ftlinge von Stammheim umlaufen und suggerieren sollen, in Wahrheit seien die RAF-Leute umgebracht worden. Ein von der Ensslin-Schwester Christiane mitverfa;tes Buch wird das gleiche Thema haben; es soll die Wiederaufnahme der Mord-Ermittlungen erzwingen.
09.03.1980, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 11/1980
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K;nnte es so gewesen sein? Drei M;nner, sie nannten sich Eitan, Casey und Theo, waren in den Zellenbau I der Stammheimer Strafanstalt gekommen, ohne von den Wachen bemerkt worden zu sein. Als gegen 20 Uhr die Zusatzschl;sser der elektronisch gesicherten T;ren zum Hof verriegelt wurden, hielten die drei sich versteckt. Es war der 17. Oktober 1977.
Um die gleiche Zeit machte sich in Mogadischu, fern in Somalia, eine Einheit der deutschen Grenzschutzgruppe 9 bereit, die vier Tage zuvor von arabischen Terroristen gekaperte Lufthansa-Boeing »Landshut« zu st;rmen.
Bonn hatte beschlossen, die Geiseln gewaltsam zu befreien. Und noch etwas: Die in Stammheim einsitzenden Spitzen der »Rote Armee Fraktion«, deren Freilassung die Araber zu erpressen suchten, sollten beseitigt werden. Nur wenn es fortan keine RAF-Leute mehr zu befreien gab, so die ;berlegung, war die Bundesrepublik vor weiteren, wom;glich noch schlimmeren Entf;hrungsaktionen halbwegs sicher.
Lautlos huschten Eitan, ein Israeli, und Casey und Theo, beide vom Bundesnachrichtendienst, ;ber das Nottreppenhaus vom 6. in den 7. Stock des Stammheimer Zellenbaus. Es war kurz nach f;nf Uhr am Morgen des 18. Oktober, in Mogadischu hatte die GSG 9 ihren Angriff auf die »Landshut«-Piraten schon erfolgreich beendet.
Mit Nachschl;sseln, die der BND beschafft hatte, ;ffneten die drei M;nner das Haupt- und das Zusatzschlo; der Feuert;r zum Gefangenentrakt, schlossen die ;ber der T;r liegenden Kontakte der Alarmanlage kurz und betraten unbehelligt den Zellenflur. Die »Telemat«-Anlage -- zwei Fernsehkameras, die nachts den Gang ;berwachen sollten -- hatten BND-Spezialisten w;hrend des Trubels der letzten Tage durch Einschieben einer Leiterplatte manipuliert: Wenn der Aufsichtsbeamte, der 40 Meter entfernt in seiner Kabine sa;, oder der Wachhabende unten in der Torwache auf ihren Monitor schauten, sahen sie zu bestimmten Zeiten nur ein Standbild vom leeren Zellenflur.
Leise entfernte das Trio die vor den Zellent;ren der RAF-Terroristen angebrachten »Kontaktsperrepolster« -mit Schaumgummi umh;llte Holzspanplatten, die n;chtliche Rufkontakte auf dem Flur verhindern sollten. Dann bauten sich die drei vor den Zellen der Gefangenen auf: Theo rechts vor der Nr. 716 (Jan-Carl Raspe), Casey auf der linken Seite vor 719 (Andreas Baader), Eitan schr;g gegen;ber vor Gudrun Ensslins Zellent;r (Nr. 720).
Vorsichtig ;ffneten sie, alle zur gleichen Zeit, die Essensausgabeklappen. Theo schob ein hinter der Klappe h;ngendes S.89 rotbraunes Tuch ein St;ck zur Seite und ortete, mit Hilfe eines Infrarotsichtger;tes, als erster sein Opfer. Raspe lag auf seiner Liege vor der Stirnwand und schlief oder d;ste.
Das Sichtinstrument, das jedes der drei Kommando-Mitglieder bei sich f;hrte, hatte es in sich: Es war mit einer kleinen Pistole kombiniert -- ein Ger;t, das vom US-Geheimdienst CIA konstruiert und in den USA bereits heftig diskutiert wurde. Denn das Ding mit dem Namen »Nondiscernible Microbioinoculator« verschie;t giftige oder pharmakologisch pr;parierte Pfeile, die angeblich sp;ter in den K;rpern der Opfer nicht mehr ausgemacht werden k;nnen.
Die Schie;ger;te von Casey, Eitan und Theo waren mit einem ebenfalls aus den USA stammenden Bet;ubungsmittel munitioniert, das gerade ausreichte, den Getroffenen f;r f;nf oder zehn Minuten in Tiefschlaf zu versetzen.
Raspe wurde von dem Pfeil am Hals getroffen. Theo ;ffnete, wieder mit Nachschl;sseln, die beiden Schl;sser der Zellent;r, sprang quer durch den Raum hinter die Liege, richtete den wehrlosen RAF-Mann auf und scho; ihm mit einer Neun-Millimeter-Pistole, auf die er einen Schalld;mpfer gesteckt hatte, in die rechte Schl;fe. Raspe sackte, an die Seitenwand gelehnt, zusammen.
Dann legte der M;rder die Todeswaffe an die halbge;ffnete rechte Hand seines Opfers, hantierte nahe dem Fenster an einer Sockelleiste und verlie; die Zelle.
Hinter der Sockelleiste in Raspes Raum befand sich ein siebzehn mal acht mal drei Zentimeter gro;er Hohlraum, in den die Todeswaffe, Marke »Heckler & Koch«, genau hineinpa;te. Er war von einem Helfershelfer des BND w;hrend einer Zellendurchsuchung eigenh;ndig ausgekratzt worden und sollte als Nachweis daf;r herhalten, da; Raspe die Waffe selbst in der Zelle gehabt und mit ihr Selbstmord begangen hatte.
In Wahrheit stammte die »Heckler & Koch« -- die es mit vier austauschbaren L;ufen verschiedenen Kalibers zu kaufen gibt -- aus einer Asservatenkammer des Bundesnachrichtendienstes. Fachleute hatten sie durch ;berschlagen alter und Einschlagen frischer Nummern auf »Terroristenwaffe« getrimmt: Ein Schie;eisen dieser Art, allerdings ohne den Neun-Millimeter-Lauf, war von dem Terroristen Christian Klar am 27. Oktober 1976 im italienischen Aosta gekauft worden -eine Erkenntnis, die das Bundeskriminalamt S.92 lange vor der Stammheimer Todesnacht gewonnen und dem BND arglos ;berlassen hatte. Ein einzelnes Neun-Millimeter-Rohr -- auch das wu;te das BKA seit l;ngerer Zeit -war am 10. November 1976 vermutlich durch ein Mitglied der Haag-Mayer-Bande in Basel erworben worden.
Jan-Carl Raspe starb am Morgen um 9.40 Uhr im Stuttgarter Katharinenhospital; zwei Stunden zuvor hatte ihn der Fr;hdienst noch lebend, aber bewu;tlos, in seiner Zelle aufgefunden.
Anders als sein M;rder hatten Casey und Eitan am Eingang zu den Zellen 719 und 720 mit Schwierigkeiten zu k;mpfen. Andreas Baader und Gudrun Ensslin hatten die Innenseiten ihrer Zellent;ren mit gelben Schaumstoffmatten zugestellt. Bei dem Versuch der M;nner, die Matten beiseitezuschieben, erwachten Baader und Gudrun Ensslin aus ihrem D;mmerschlaf. Sie wurden im Stehen von den pr;parierten Pfeilen getroffen.
Und bei Baader, dessen K;rper durch st;ndige Einnahme von Schmerz- und Beruhigungsmitteln unempfindlich geworden war, wirkte das Bet;ubungsmittel erst nach einer halben Minute. Es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf sich aus Caseys schallged;mpfter Pistole der ungarischen Marke »FEG«, Kaliber 7,65, mehrere Sch;sse l;sten.
Diese »FEG«, von dem Stuttgarter Rechtsanwalt Arndt M;ller Monate vorher ;ber das Stammheimer Proze;geb;ude in die Anstalt geschmuggelt, hatte ein vom BND nach Stuttgart ausgeliehener Techniker eine Woche vor der Todesnacht tats;chlich in einem Wandversteck in der Zelle 715 gefunden und an sich genommen. Bewohner der Zelle war bis zum 4. Oktober drei Wochen lang Andreas Baader gewesen. Verr;ckt: Casey besa; nun eine echte Terroristenwaffe.
Als Baader zusammenbrach, zerrte der bullige Casey ihn auf einen Stuhl, der in dem Verlies vor einer Holzfaltwand stand. Dann zog er die Arme des Bewu;tlosen nach hinten ;ber den Kopf, pre;te dessen rechte Hand um den Griff, einen Finger der linken Hand an den Abzugsb;gel der Pistole und dr;ckte los. Der Schu; sa; im Nacken, Baader rutschte tot auf den Fu;boden.
W;hrenddessen war Theo in die Zelle Irmgard M;llers eingedrungen, die der Raspes gegen;berlag. Die Terroristin hatte auf ihrer Liege vor sich hin ged;st, und Theo hatte sie mit seinem CIA-Ger;t von der T;r aus direkt getroffen.
Jetzt zog er ihr das schwarz-blaue T-Shirt nach oben -- weil er wu;te, da; solche Handlung f;r Selbstm;rder typisch ist -- und stach mit einem Anstaltsmesser, das er in der Zelle gefunden hatte, mehrmals in die Herzgegend der Terroristin. Dabei dr;ckte er ihre rechte Hand mit an den Messerschaft.
Da; Eitan in diesem Augenblick die Zelle betrat, hat Irmgard M;ller m;glicherweise das Leben gerettet: Der Israeli brauchte Hilfe in der Ensslin-Zelle.
Theo w;hnte Irmgard M;ller tot. Er ahnte nicht, da; das Messer ihr Herz verfehlt hatte, verlie; mit dem Mordpartner die Zelle und dr;ckte das S.94 Kontaktsperrepolster wieder gegen die T;r.
In der Zelle 720 hatte Eitan inzwischen das Lautsprecherkabel an einer der Stereoboxen abgeschnitten, die Gudrun Ensslin zugebilligt worden waren, und die Strippe durch das Wellgitter des Zellenfensters geschlungen. Den Rest konnten die beiden M;nner nur mit vereinter Kraft erledigen. Theo hob die 49 Kilo Gudrun Ensslins erst einmal vorsichtig vom Fu;boden auf einen Stuhl und hielt den K;rper anschlie;end am Fenstergitter so weit in die H;he, da; Eitan die beiden Enden des Kabels unter dem h;ngenden Kinn verknoten konnte. Als Theo loslie;, bewegte Gudrun Ensslin deutlich Arme und Beine.
Die beiden M;nner lie;en den Stuhl am Fenster stehen, h;ngten eine dort hingeh;rende Wolldecke wieder an ihren Platz, eilten zum Flur zur;ck, verriegelten die Schl;sser und zogen, indem sie durch die Essenklappe griffen, die im Zelleninnern zurechtgestellte gelbe Schaumstoffmatte wieder an die T;r heran.
In der Zelle gegen;ber hatte Casey unterdessen den Schalld;mpfer vom Lauf seiner »FEG«-Pistole gezogen, die blo;e M;ndung nochmals kurz in Baaders Nackenwunde getippt und dann die Waffe in die Blutlache gelegt, die sich neben der Leiche ausbreitete. Eitan und Theo halfen schlie;lich, die Schaumstoffmatte an der Innenseite der Baaderschen Zellent;r wieder in die richtige Lage zu bringen.
Als auch die Kontaktsperrepolster f;r die Zellen 719 und 720 wieder vor Ort standen, packte das Trio die Ger;te weg, zog die Handschuhe aus, schlo; die Feuert;r zum Nottreppenhaus hinter sich ab und verschwand. Noch am Vormittag verlie;en die drei, inmitten einer Gruppe von Sanit;tern und Kriminalbeamten, unerkannt das Gel;nde.
War es wirklich so? Die Geschichte ist ausgedacht, aber so ;hnlich kann es schon nicht mehr gewesen sein, denn das steht fest: Nur derart perfekt, derart perfide k;nnten die Ensslin, Baader und Raspe ermordet worden sein.
Das Bonner Kabinett so etwas wie die Mafia oder wenigstens doch wie eine dieser Juntas, Helmut Schmidt der Pate? Seit zweieinhalb Jahren h;lt sich dieser Verdacht in den Winkeln der linken Szene, und, na ja, ausschlie;en will es so mancher nicht.
Was ist mit den Sandspuren an Baaders Schuhen? Haben sie ihn nicht doch in jenen N;chten nach Mogadischu geflogen, in die W;ste, und dann umgebracht?
Gibt es sie, die ;rztlichen Hinweise auf »Ver;nderungen« in den Gehirnen der drei Toten? Und was war mit den drei Mercedes-Limousinen, die in der fraglichen Nacht durch den Gef;ngnishof gekurvt sein sollen?
Stoff genug f;r ein Buch, das Christiane Ensslin, Gudruns Schwester, zusammen mit dem K;lner Redakteur Rudolf Rau und unter dem Beistand eines »sachkundigen Herausgebergremiums« diesen Sommer herausbringen will. »Es wird ein ziemlich dicker Band«, sagt sie, »unser Ziel ist es, eine Wiederaufnahme des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zu erreichen.«
Ein Ziel wird dieses Werk wohl so oder so erreichen: Die Diskussion um die Toten von Stammheim wird erneut aufflackern, zu den gel;ufigen Ger;chten werden noch ein paar mehr kommen, dem Bonner Staat wird wieder einmal Mord unterstellt werden.
Das alles mag absurd klingen, so wirklichkeitsfremd wie schon immer das Gerede dieser RAFs und der anderen Revoluzzer. Aber doch sind diese schwarzen Geschichten gar nicht verwunderlich.
Sie sind gediehen auf allerlei Unrat, den amtliche Instanzen und private Sachverst;ndige, Polizisten wie Parlamentarier bei der Behandlung der Aff;re hinterlassen haben. Schludrigkeiten und Schl;frigkeiten mindern den Wert einer Indizien-Kollektion, die makellos h;tte sein sollen.
Die Staatsanwaltschaft stellte im April 1978 das Ermittlungsverfahren S.97 ;ber den Tod der Stammheimer H;ftlinge ein, »weil«, so die b;ndige Begr;ndung, »die Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich selbst get;tet haben, die Gefangene M;ller sich selbst verletzt hat und eine strafrechtliche Beteiligung Dritter nicht vorliegt«. Dabei hat die Kriminalpolizei, auf deren Zuarbeit die Strafverfolger angewiesen waren, die M;glichkeit »Mord« nur mal so nebenbei ;berpr;ft.
Und der vom baden-w;rttembergischen Landtag eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschu; -- dessen sozialliberale Minderheit vor allem bestrebt war, die Unionsmehrheit in Verlegenheit zu bringen -- verlor rapide an Schwung, nachdem parteipolitisch nichts mehr herauszuholen war. Am Ende war es eine ganze Latte von Schludereien bei den Ermittlungen, Widerspr;che unter den Experten, L;cken und Fehler in den Untersuchungsberichten.
Da; etwa die Todeszeit von Andreas Baader und Gudrun Ensslin nicht pr;zise ermittelt werden konnte, mag noch mit der Angst der Beh;rden vor internationalem Mi;trauen und dem latenten Argwohn der Linken zu erkl;ren sein. Ausl;ndische Koryph;en mu;ten herbei, um die Erkenntnisse einheimischer Wissenschaftler zu best;tigen und jedwedem Verdacht vorzubauen, die Deutschen h;tten in eigener Sache nicht genau genug untersucht.
Die drei Professoren Wilhelm Holczabek, Hanspeter Hartmann und Armand Andre brauchten bis zum sp;ten Nachmittag des 18. Oktober, um erst einmal aus Wien, Z;rich und L;ttich nach Stuttgart-Stammheim zu gelangen. So lange jedoch wollte der T;binger Gerichtsmediziner Hans Joachim Mallach mit der Leichenschau nicht warten, und er fuhr, weil er sich in seiner Arbeit »beeintr;chtigt« f;hlte, schon um die Mittagsstunde »aus der Jacke« (Mallach: »Der Herrgott m;ge es mir verzeihen"). Dem Mediziner schien die Gefahr unabweisbar, da; in der Zwischenzeit »wesentliche Befunde, die zu erheben w;ren, verlorengehen«.
Am Morgen beispielsweise h;tten die Muskeln der Toten mechanisch oder mittels elektrischen Stroms noch erregt, die Pupillen der Augen mit pharmakologischen Substanzen noch gereizt werden k;nnen -- Methoden, durch die sich die Todeszeit oft auf ein oder zwei Stunden einengen l;;t. Aber Mallach blieb ungeh;rt.
Die Gutachter mu;ten sich am fr;hen Abend mit R;ckschl;ssen aus der Totenstarre, den Totenflecken und der Leichentemperatur zufriedengeben und mochten schlie;lich nur mehr einen vagen Zeitraum f;r den Todeseintritt angeben: »Zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens.«
So recht mit dabei waren die Experten aus dem Ausland ohnehin nicht; S.98 »v;llig normale Feststellungen«, attestierten sie den »deutschen Kollegen« hinterher -- ohne ;berhaupt an den Untersuchungen ;ber die Todeszeit teilgenommen zu haben. Ebensowenig wirkten sie bei der Suche der Gerichtsmediziner nach etwaigen Gift- oder Bet;ubungsmitteln mit, und auch bei Leichenschau und Leichen;ffnung waren sie offiziell nur als »Beobachter« zugegen.
Wochenlang war es sogar fraglich, ob die Kapazit;ten, inzwischen von Unbekannten bedroht, noch ein zweites Mal nach Stuttgart zur;ckkehren und vor dem Untersuchungsausschu; aussagen w;rden. Einer jedenfalls, Professor Holczabek aus Wien, blieb lieber gleich zu Hause.
»Die Herren«, erinnert sich Professor Mallach, »haben mir erkl;rt: Bei ihnen zu Hause h;tte man in einem solchen Fall die Untersuchung alleine gemacht und nicht erst jemanden aus dem Ausland geholt. Und sie haben versichert: Falls wir noch mal gerufen werden -- wir werden nicht wiederkommen.«
So waren die deutschen Ermittler ganz unter sich bei den Pannen und Unterlassungsfehlern, die ihnen laufend unterliefen. Das begann bereits bei der Spurenuntersuchung an den K;rpern Andreas Baaders und Jan-Carl Raspes. »Der Gerichtsmediziner wei;«, mahnte ahnungsvoll der erste Obduzent und Gerichtsarzt Professor Joachim Rauschke aus Stuttgart bald nach der Stammheimer Todesnacht, »auf welche Spuren es besonders ankommt, wenn es um die Frage einer Unterscheidung zwischen Suicid und Einwirkung von fremder Hand geht«, auf »Schmauchablagerungen« und »Blutspritzer« n;mlich -- und zwar »ehe irgendwelche Spuren durch Ma;nahmen der Polizei und der Anwesenden verwischt werden konnten«.
Als dann Waffenfachleute des Bundeskriminalamtes mehrere Wochen sp;ter mit einer Vergleichsbeschie;ung feststellen wollten, aus welcher Entfernung der Schu; in Baaders Nacken abgegeben worden war, kamen sie anhand der verh;ltnism;;ig geringen Pulverschmauch-Auflagerungen an Baaders Nacken zu dem Ergebnis: aus 30 bis 40 Zentimetern. »Eine Distanz«, mokierte sich Stammheim-Anwalt Karl-Heinz Weidenhammer, »aus der sich nur ein Artist erschie;en kann.«
Und die BKA-Experten fanden f;r den Mangel an Schmauch denn auch eine Erkl;rung, die den Bef;rchtungen des Professors Rauschke entgegenkam: Es k;nne sich da nur um eine »Verschleppung von Pulverschmauchspuren« S.99 handeln; anders gesagt: Die Polizei hatte mit den Leichnamen hantiert oder hantieren lassen, ohne an irgendwelche beweiskr;ftigen Ablagerungen zu denken.
Schmauchspuren orteten die Professoren auch an Baaders rechter Hand -f;r die Ermittler und den Untersuchungsausschu; ein untr;gliches Zeichen daf;r, »da; Baader sich die Schu;verletzung selbst beigebracht hat«. Denn dieser Schmauch konnte nur aus der Waffe stammen, die Baader bei seinem Selbstmord mit der rechten Hand gef;hrt hatte und deren Boden undicht gewesen sein mu;te.
Hingegen, an der rechten Hand Jan-Carl Raspes, der sich laut Staatsanwaltschaft ebenfalls selbst t;tete, war von Schmauch keine Spur zu finden. Noch nicht einmal Blut gab es da, das an Baaders Hand immerhin noch entdeckt worden war.
Derlei Ungereimtheiten bewegten auch den Professor Hartmann aus der Schweiz, als er am 23. Januar 1978 vor dem Stuttgarter Ausschu; erschien. Blut wie Schmauch, meinte er, k;nnten w;hrend Raspes Aufenthalt in der Klinik abhanden gekommen sein, aber »sch;n w;r''s gewesen, wenn wir es f;r den Beweis der Selbsthandlung gefunden h;tten«. Und weiter: »Sie m;;ten unter Umst;nden Waffenversuche durchf;hren. Ich w;rde auch sagen: Hier w;ren Waffenversuche wichtig, um zu sehen, ob es ;berhaupt zu einer Beschmauchung bei einer Schu;abgabe kommt, wenn die Waffe gew;hnlich gehalten wird.«
Doch bis zur Staatsanwaltschaft drang der Appell des Wissenschaftlers offenbar nicht durch, obwohl deren Protokolleure bei den Verhandlungen des Untersuchungsausschusses st;ndig im Saal sa;en. Die Waffenversuche fanden nicht statt, weder mit der Raspe- noch mit der Baader-Waffe.
F;r das BKA war nicht einmal sicher, ob es sich bei den dunklen Fl;chen an Baaders Hand ;berhaupt um Schmauch handelte oder vielleicht nur um Staub oder Farbe. Ein Untersuchungsergebnis -- gewonnen von einer Hautprobe, die Stuttgarts Staatsanwaltschaft nach Wiesbaden geschickt hatte -- lie; alles offen: »Mikroskopisch waren auf dem Hautteil keine als Pulverschmauch anzusehenden Anhaftungen erkennbar.« Bei einem weiteren Test, in dessen Verlauf zehn Stellen des Baaderschen Hautteils untersucht wurden, fanden sich an zwei Punkten Blei- und an einem Blei- und Bariumspuren.
Zwar konnte das nach Ansicht der Pr;fer immerhin »als Hinweis auf Pulverschmauchspuren angesehen werden«. Jedoch war dieser Schlu; f;r die S.100 Chemiker »nicht zwingend«, da es sich »bei Blei und Barium um h;ufig in der Natur vorkommende chemische Elemente handelt, die auch anderer Herkunft sein k;nnen, und da sich keine zus;tzlichen Hinweise auf Pulverschmauchspuren fanden«.
Seine Zweifel ;bermittelte das BKA unter dem 15. Juni 1978 nach Stuttgart -- vier Monate nachdem der parlamentarische Untersuchungsausschu; seine Arbeit beendet, zwei Monate nachdem die Staatsanwaltschaft das Todesermittlungsverfahren eingestellt hatte. PS: »Es wird um Mitteilung gebeten, wie ;ber das Hautteil verf;gt werden soll, da es hier nur noch kurzfristig im Gefrierschrank aufbewahrt werden kann.«
Doch da bleiben als weiteres Indiz ja noch r;tliche Spritzer aus der Daumen- und Zeigefingergegend an Baaders rechter Hand, bei denen auch das BKA, ohne sie n;her zu untersuchen, auf »Blutspuren« tippte -- und die, falls es sich wirklich um Baaders Blut handelte, nach Lage der Dinge nur von einer Selbstt;tung herr;hren konnten.
Die Blutuntersuchungen oblagen, wie alle serologischen und histologischen ;berpr;fungen, dem Mediziner Rauschke vom Stuttgarter Institut f;r Rechtsmedizin, dem Mann also, der nach der Todesnacht seine Skepsis gegen;ber polizeilicher Sorglosigkeit kundgetan hatte. »In acht bis vierzehn Tagen«, k;ndete der Professor am 2. November 1977 vor dem Landtags-Untersuchungsausschu; an, k;nnten die Arbeiten »abgeschlossen« sein.
Als vier Wochen vergangen und die Blutgutachten noch immer nicht beim Ausschu; eingegangen waren, hakte der Ausschu;vorsitzende Rudolf Schieler nach. Schon, schon, vertr;stete Rauschke die Abgeordneten, aber es seien da eben noch Untersuchungen »im Gange«. Und er »m;chte deshalb im Augenblick dar;ber noch nichts sagen. Es handelt sich um Untersuchungen in Zusammenarbeit mit dem Institut f;r Rechtsmedizin der Freien Universit;t Berlin«.
Sozialdemokrat Schieler, der fr;her einmal baden-w;rttembergischer Justizminister war, lie; es an Nettigkeit nicht fehlen: »K;nnen Sie etwas dar;ber sagen, auf was diese Untersuchungen zielen, oder wollen Sie das nicht sagen?«
Nein, sagte Rauschke, »das m;chte ich nicht sagen«.
»Das m;chten Sie jetzt nicht sagen«, best;tigte Schieler freundlich, »bis wann werden die Untersuchungsergebnisse vorliegen?«
Rauschke: »In ein bis zwei Wochen wird das Gutachten schriftlich bei der Staatsanwaltschaft und dann auch wohl beim Justizministerium und beim Ausschu; eingegangen sein.«
Sieben Wochen danach, am 23. Januar 1978, erschien der Professor ein drittes Mal vor dem Ausschu;. Sein Gutachten lag zwar noch immer nicht vor, aber das fiel weiter nicht auf. Er wurde von keinem Abgeordneten mehr danach gefragt.
Die feingeweblichen Untersuchungen und Blutgruppenbestimmungen Rauschkes fehlten auch noch, als sich der Ausschu; Ende Februar 1978 aufl;ste. Sie waren noch nicht da, als die Staatsanwaltschaft am 18. April 1978 ihr Ermittlungsverfahren einstellte und als der Frankfurter Anwalt Weidenhammer im Januar 1979 in Stuttgart die Ermittlungsakten einsah.
Ende 1979 verbot die Staatsanwaltschaft dem Professor Rauschke ein bereits vereinbartes Gespr;ch mit dem SPIEGEL, der sich nach dem Schicksal der Blut- und Gewebeproben erkundigen wollte. Direkt um Auskunft gebeten, h;llten sich die Strafverfolger in Schweigen. »Wir haben uns entschlossen«, so Stammheim-Staatsanwalt Rainer Christ Anfang des Jahres, »;ber Detailfragen keine Angaben mehr zu machen.«
Details sind bei der Staatsanwaltschaft offenbar nicht mehr gefragt, seit sich Gutachter, Kripo und Strafverfolger einig darin sind, da; die Stammheimer Gefangenen Selbstmord begingen, nicht aber, wie sie es machten.
Das Blut an Baaders Hand war nicht der einzige Stoff, dessen Untersuchung durch das von Rauschke geleitete Institut bei Abschlu; der Ermittlungen noch ausstand. Als Gef;ngnisbeamte am Morgen des 18. Oktober Baaders Leiche fanden, entdeckten sie drei Einsch;sse in der Zelle, darunter eine »Aufschlagstelle mit einem Abpraller« (Kripo) in der Wand gegen;ber. Das S.103 offensichtlich dazugeh;rende Projektil lag auf dem Boden, neben der Liege in H;he von Baaders Brustkorb.
Einhellig waren die f;nf Gerichtsmediziner, Ausl;nder eingeschlossen, der Meinung, da; dieses Projektil »das Gescho; war, das durch den Kopf bis vor an die Wand gegangen ist, von dort reflektiert wurde und auf den Boden zu liegen kam«. Die Abprallerspuren belegte die Polizei denn auch mit Beschlag und nahm sie auf in ihren Spurensicherungsbericht: »Spur Nr. 6: Gewebeteil oder Blut von der Wand.« Aber sie kam bei der Untersuchung des Tathergangs zu einem ganz anderen Ergebnis.
»Das abgefeuerte Gescho;«, befand die Kripo im Gegensatz zu den Professoren, »drang nur noch mit schwacher Restenergie aus dem Sch;del und blieb im unmittelbaren Bereich der Leiche liegen.« Niedergelegt war dies im polizeilichen »Spurenauswertebericht« ;ber die Baader-Zelle Nr. 719, in dem zwar jede Spur einzeln aufgez;hlt -- nur die »Spur Nr. 6«, laut Professoren-Urteil der t;dliche Schu;, mit keinem Wort mehr erw;hnt war.
Die Sechserspur existiert seither zwar f;r die Wissenschaftler, nicht aber mehr f;r die Kripo, wiewohl im Spurensicherungsprotokoll noch ;ber das »Gewebeteil oder Blut von der Wand« vermerkt war: »Befindet sich zur Untersuchung beim Gerichtsmedizinischen Institut der Stadt Stuttgart.«
Wie das Blut oder die Gewebeteile an die Wand kamen, wenn doch das t;dliche Gescho; nach Meinung der Polizei die Wand gar nicht erreichte, ist bis heute das Geheimnis der Ermittler geblieben.
Asserviert und nie mehr anger;hrt wurde auch sonst noch allerlei: Nahe der am Fenstergitter h;ngenden Leiche von Gudrun Ensslin stand am Nachmittag nach der Todesnacht ein Stuhl, auf dessen Sitzfl;che sich Spuren befanden, Haare und Fasern unter anderem. Professor Holczabek aus Wien, mit dem gesamten ;rzteteam zur Leichenschau versammelt, wollte das M;bel stehenlassen, der Kollege Rauschke aus Stuttgart es lieber samt den Spuren entfernen.
»Ich hatte Angst«, so Rauschke, »da; man diese Spuren zerst;ren k;nnte. Au;erdem habe ich das Argument vertreten, da; f;r den Fall, ein anderer w;re beteiligt, dieser andere an dem Stuhl unter Umst;nden Fingerabdr;cke hinterlassen haben k;nnte.«
Schlie;lich sprach Rauschke ein Machtwort ("Ich bin hier der Gerichtsarzt, es kann eigentlich nur einer das Sagen haben"), der Stuhl wurde gegen einen anderen ausgetauscht und als »Spur Nr. 12« sichergestellt: »Mikrospurenabzug vom Stuhl, der unmittelbar neben der Leiche stand.« Zweck der Ma;nahme, laut Spurensicherungsprotokoll: »Untersuchung auf Fremdspuren.«
Als die Staatsanwaltschaft das Todesermittlungsverfahren einstellte, war aber Spur Nr. 12 keineswegs untersucht worden. Dazu n;mlich, so allen Ernstes die Stuttgarter Mordkommissare, habe die beh;rdliche Erlaubnis gefehlt. Eine Pr;fung des Stuhls aus der Ensslin-Zelle k;nne »nur mit einem zielbegr;ndeten Untersuchungsersuchen vorgenommen werden«.
;hnlich verfuhren die Ermittler mit den meisten Mikrospurenabz;gen, die von den Fu;b;den der Todeszellen genommen worden waren. Auch die sollten eigentlich eine »Untersuchung auf Fremdmaterial« erleben, kamen aber gar nicht erst ins Labor. Bei anderen S.104 F;hrten, die eine Beteiligung Dritter h;tten widerlegen oder nahelegen k;nnen, unterblieb die ;berpr;fung einfach »aus zeitlichen Gr;nden«.
An Zeit mangelte es mitunter auch den Sachverst;ndigen -- selbst dann, wenn es darum ging, Fakten zu ;berpr;fen, die ihnen Anla; zu schwerwiegenden Schlu;folgerungen boten.
So etwa im Fall des Jan-Carl Raspe, der am Morgen des 18. Oktober auf seiner Liege hockend aufgefunden wurde, mit der rechten Schl;fe, in der sich der Pistoleneinschu; befand, zur Au;enmauer hingewandt. »Ich spreche wieder als Advocatus Diaboli«, beschwor Professor Hartmann aus Z;rich den Untersuchungsausschu;, »ein Mensch, der diesen Schu; dem auf dem Bett sitzenden Raspe beibringen will, mu; hinter dem Bett stehen, zwischen Bett und Wand. Und dieser Platz ist au;erordentlich beschr;nkt.«
Wie beschr;nkt der Platz dort war, schilderte Experte Rauschke dem Ausschu;: »Zwischen der rechten Hand (Raspes) und der Au;enmauer war kein Platz, weil die Schaumgummimatratze nach meiner Erinnerung ganz an der Wand lag, oder fast ganz.«
Nichts davon stimmt. Denn Schlafstatt samt Matratze standen so weit von der Mauer ab, da; auf dem Boden zwischen Liege und Wand nicht nur Raspes Plattenspieler, sondern, weiter zum Fu;ende hin, auch noch ein kompletter Stuhl mit einem Lautsprecher Platz hatte. Bequem h;tten sich auch noch zwei Menschen hinter der Liege aufhalten k;nnen.
Derlei Widerspr;che gab es auch bei den anderen Todesf;llen. So etwa bei der Frage, wie Andreas Baader es letztlich schaffte, sich eigenh;ndig in den Nacken zu schie;en. F;r Professor Mallach war das »gar kein Problem«, wenn Baader die Waffe »so gedreht« hielt, »da; das Griffst;ck nach oben in Richtung auf die Decke zeigte«. Auch Sachverst;ndiger Rauschke hielt so etwas f;r »ohne weiteres m;glich« -- sofern »der Abzug oben« liege. Und Mediziner Hartmann zelebrierte dem Ausschu; sogar mit einer Spielzeugpistole, wie Baader die Waffe mit beiden H;nden gegriffen und sich an den Nacken gehalten habe: mit Griff und Abzug, versteht sich, nach oben.
Die Kriminalisten der Landespolizeidirektion Stuttgart II aber ermittelten g;nzlich anderes: »Waffe, Verletzung und Schmauchspur zusammen ergeben, da; die Waffe mit dem Griffst;ck nach unten an den Hinterkopf gesetzt wurde.«
Vollends konfus gerieten dann die Details in der Beweiserhebung, die der parlamentarische Untersuchungsausschu; anstellte. F;r ihn war beispielsweise Andreas Baader auf Seite 42 des Schlu;berichts im Absatz 1 noch »Rechtsh;nder« (was falsch war); dann aber, im Absatz 3, wiederum »Linksh;nder« (was stimmte). Unbefangen zogen die Abgeordneten, fast alle juristisch vorgebildet, aus jeder der beiden Behauptungen ein- und denselben Schlu;: Selbstmord.
Eine »Pistole Smith & Wesson, vernickelt«, die laut Seite 88 des Untersuchungsberichts am 18. November 1977 in der Wand der Zelle 723 der Stammheimer Anstalt entdeckt wurde, wandelten sich zwei Seiten weiter in einen »sechssch;ssigen verchromten Revolver Marke Colt detective special«. Da; Schludrigkeiten dieser Art durchgingen, hing wohl auch zusammen mit dem dramatischen Fallen des Jagdfiebers gegen Ende der Sitzungsserie.
Penibel hatten die Abgeordneten in den ersten Wochen nach der Todesnacht jede Einzelheit betrachtet. Keine Frage schien ihnen zu umst;ndlich, und sie lie;en nicht locker, wenn sich Zeugen oder Sachverst;ndige um klare Antworten herumzudr;cken suchten. Doch als zum R;cktritt des badenw;rttembergischen CDU-Justizministers Traugott Bender, der wegen Stammheim schon am 20. Oktober 1977 seinen Abschied genommen hatte, Anfang Februar 1978 auch noch die Demissions-Ank;ndigung des christdemokratischen Innenministers Karl Schiess kam, schien den Sozialliberalen das alles nicht mehr so wichtig.
Die Opposition gab sich zufrieden damit, es den Regierenden nun ordentlich gegeben zu haben. Neun Seiten lang sonnte sie sich in einem »abweichenden Bericht der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP« in ihrer Makellosigkeit. »Die politische F;hrung der Landesregierung hat versagt«, hie; es da, und hingebungsvoll wurde protokolliert: »Die Regierung von Baden-W;rttemberg war der Gr;;e der ihr gestellten Aufgabe bei der Bek;mpfung des Terrorismus nicht gewachsen. Sie tr;gt daf;r die politische Verantwortung.«
Die Volksvertreter, einige von ihnen ehemalige Richter und Staatsanw;lte, fragten pl;tzlich noch nicht einmal mehr nach Unterlagen, deren Beschaffung sie zuvor selbst dringend gefordert hatten. Sie beharrten nicht mehr, wenn ein Zeuge schlankweg erkl;rte: »Diese Frage kann ich Ihnen beantworten, aber nicht hier.« Und als es am Ende um das Funktionieren der Fernseh;berwachungsanlage im Stammheimer Terroristentrakt ging, lie; der Ausschu; einfach mal f;nfe grade sein.
In der Todesnacht war die Garantiefrist f;r die R;hren der »Telemat«-Anlage, die t;glich von vier Uhr nachmittags bis sieben Uhr fr;h die Zellent;ren be;ugte, l;ngst abgelaufen. Irgendeinen S.106 Wartungsvertrag mit dem Lieferanten, der Firma Siemens, hatte die Justizverwaltung nicht abgeschlossen; die Leute von Siemens waren lediglich »immer mal wieder da und haben nachgeschaut« (Vollzugsdienstleiter Rudolf Hauk).
Im Untersuchungsausschu; wollte der Vorsitzende Schieler nun gerne wissen, inwieweit und ob ;berhaupt die Kriminalpolizei nach dem 18. Oktober untersucht habe, ob die Anlage »durch Abn;tzung oder durch Alter irgendwie nicht mehr ganz funktionsf;hig ist«. Der Diplom-Physiker Rolf Martin vom Landeskriminalamt hob, als Zeuge befragt, nur die Achseln: »Ich wei; nicht, wer das entscheiden soll«, sagte er.
Schieler: »Das war nicht Ihr Auftrag?«
Martin: »Wir hatten keinen Auftrag, nein.« Damit hatte sich''s.
Allerdings hatte Physiker Martin, gegemeinsam mit einem anderen LKA-Beamten, drei Wochen nach dem 18. Oktober ausprobiert, ob denn wohl die akustische Alarmanlage funktionierte, mit der die beiden Fernsehkameras im 7. Stock kombiniert waren: ein elektronischer Dauer-Gong, der in der Aufsichtskabine im 7. Stock und in der Torwache am Anstaltseingang immer dann ert;nen sollte, wenn sich auf dem Fernsehbild etwas bewegte.
Sinn dieser Anlage war es nach den Worten eines Siemens-Ingenieurs, »Aufmerksamkeit zu wecken, weil es unzumutbar ist, da; ein Wachmann die ganze Zeit ;ber auf den Monitor starrt«.
Der Physiker hatte den Umschlu;flur, an dem die ehemaligen Zellen der Terroristen lagen, durch die Feuert;r vom Nottreppenhaus her betreten. Martin: »Ich bin durch die T;r ... dann an der linken Wand entlang ganz vorgelaufen bis zur letzten Zelle, wo Herr Baader war, habe die Zellent;r ge;ffnet, bin rein in die Zelle, dann wieder raus und quer ;ber den Gang r;ber, die gegen;berliegende Zellent;r (vormals: Ensslin) ge;ffnet und dort rein, dann wieder raus und dann diagonal durch den Gang nach vorn gelaufen, und das Ganze sehr langsam -- und dabei hat die Warneinrichtung nicht angesprochen.«
Betreten h;rten sich die Parlamentarier den abenteuerlichen Bericht des LKA-Mannes an -- denn eigentlich wollte der Ausschu; seine Beweisaufnahme an diesem Tage abschlie;en. Doch da gab der Siemens-Vertriebsingenieur Joachim Pauls das Stichwort, mit dessen Hilfe m;glicherweise alles erkl;rt werden konnte.
»R;hren halten auch nicht ewig«, sagte er, »und geben nicht ewig den gleichen Lichtstrom ab.« Wenn sich die Lichtverh;ltnisse auf dem Umschlu;flur, etwa durch Staub auf dem Fu;boden, wesentlich ge;ndert h;tten, dann sei es nicht auszuschlie;en, da; die Alarmanlage den Dr. Martin nicht wahrgenommen habe. »Ich wei; es nicht«, erl;uterte er, »ich bin nicht dabeigewesen. Aber es kann sein.«
»M;glicherweise« habe da ja Staub gelegen, sinnierte daraufhin der Ausschu;-Berichterstatter Helmut M;nch (SPD), f;gte aber immerhin hinzu, da; es sich bei dieser ;berlegung nur um »eine Theorie« handele. Auch der Vorsitzende Schieler sprach zun;chst nur davon, da; »beispielsweise der Fu;boden ... schmutzig, staubig und so weiter« gewesen sein k;nne.
Wenig sp;ter aber nahm Schieler eben das schon »mit ziemlicher Sicherheit« an, und elf Tage sp;ter, als der Ausschu; sich aufl;ste, war aus der blo;en Vermutung, der schieren Theorie, denn doch feste Gewi;heit geworden. In seinem Schlu;bericht hakte der Ausschu; das Thema »Telemat« als erledigt ab, »da ... der Linoleumfu;boden« am Tage des »Telemat«-Tests durch die Kripo »stark verschmutzt war«.
Eine weitere Merkw;rdigkeit wurde der Ausschu; gar nicht erst gewahr. Die in- und ausl;ndischen Professoren hatten sich im Ausschu; ;ber den Vorfall ausgeschwiegen, und die Kriminalpolizei kam erst sechs Tage nach dem Ende der Ausschu;verhandlungen mit der Neuigkeit heraus: Als man am Abend des 18. Oktober im Terroristentrakt versucht hatte, die Leiche der Gudrun Ensslin »aus ihrer urspr;nglichen Lage abzuh;ngen«, ri; das zweiadrige Kabel, mit dem die Frau sich per Sprung vom Stuhl erh;ngt hatte.
Schwester Christiane Ensslin mag es vermuten: »Das Kabel hat eben nur S.108 zum Aufh;ngen einer Bewu;tlosen ausgereicht.« Die Beamten der Landespolizeidirektion Stuttgart II aber sehen das ganz n;chtern: Der Draht sei dort, wo er durch das Zellengitter geschlungen war, durch Gudrun Ensslins Krampfbewegungen w;hrend des Erstickungskampfes schon angeknackst gewesen.
M;glich ist beides -- und das trifft auf beinahe alles zu in der Todessache Ensslin, Baader, Raspe. In der Natur solcher Geschehnisse liegt es, da; sie die Phantasie der Betroffenen wie der Au;enstehenden aufheizen, sich jedweder Spekulation ;ffnen.
Doch bei aller Nachl;ssigkeit und Ignoranz, die der Wahrheitsfindung im Wege standen: Es gibt keinen vern;nftigen Grund f;r die Unterstellung, es habe sich um Mord gehandelt, weder im Detail noch im allgemeinen.
Heuchelei und Korruption und Machtgier, das und sonst noch ;bles mag''s wohl geben in der bundesdeutschen Politik. Mord und Totschlag aber z;hlen nicht dazu.
»Dieser Staat ist daf;r zu solide«, meint der baden-w;rttembergische Landespolizeipr;sident Alfred St;mper, und wenn schon nicht, sagt er: »Dann h;tten die Leute den Mut nicht dazu.«
Nur das blanke Nichtwissen ;ber die politische Szenerie und die ;mtermentalit;t macht die ;berzeugung m;glich, da sei beh;rdlich gemeuchelt worden. Und zudem m;;ten bei allen Anzeichen, die den Selbstmord plausibel machen, die Augen fest geschlossen werden.
Der Freitod hatte sich lange angek;ndigt. Am 12. August schon registrierte der Stuttgarter Medizinprofessor Joachim Schr;der, der die Gefangenen ;rztlich betreute, »eine gewisse Todessehnsucht und Verzweiflung«.
Der Anstaltsarzt Dr. Helmut Henck traf am 6. Oktober Jan-Carl Raspe in einem »ausgepr;gten depressiven Stimmungszustand« an und meldete der Gef;ngnisleitung: »Nach dem Gesamteindruck mu; davon ausgegangen werden, da; bei dem Gefangenen eine echte suicidale Handlungsbereitschaft vorliegt. Ich bitte um Kenntnisnahme und um Mitteilung, auf welche Art und Weise ein eventueller Selbstmord verhindert werden kann.«
Am 8. Oktober drohte Andreas Baader gegen;ber dem Ersten Kriminalhauptkommissar Albrecht Klaus vom BKA mit einer »irreversiblen Entscheidung der Gefangenen in Stunden oder Tagen«. Und am Nachmittag des 17. Oktober, unmittelbar vor der Todesnacht, bat Gudrun Ensslin zum erstenmal um ein Gespr;ch mit den Anstaltsgeistlichen, dem evangelischen wie dem katholischen.
Um diese Zeit mu;te die innere Spannung der H;ftlinge nahezu unertr;glich sein. Beamte des Bundeskanzleramtes und des Bundeskriminalamtes gingen seit Tagen in Stammheim ein und aus, um mit den Inhaftierten ;ber ihren Austausch gegen den gekidnappten Arbeitgeberpr;sidenten Hanns Martin Schleyer und die »Landshut«-Passagiere zu verhandeln.
Am Abend des 17. Oktober hatte Irmgard M;ller ;ber ein Anstaltskabel bis 22 Uhr die Nachrichten von der Entwicklung in Mogadischu geh;rt. Ein Transistorradio vom Typ »Sanyo RP 5110«, das morgens in Raspes Zelle aufgefunden wurde, war auf den S;ddeutschen Rundfunk eingestellt, der 40 Minuten nach Mitternacht die erste Meldung von der Erst;rmung der »Landshut« ausgestrahlt hatte.
Schlie;lich konnten sich die Gefangenen mit Hilfe von Schallplattenverst;rkern, S.109 Lautsprechern und raffiniert geschalteten Schwachstromleitungen untereinander ausgezeichnet verst;ndigen. Mit gr;;ter Wahrscheinlichkeit erfuhren sie deshalb noch in der Nacht von dem Handstreich in Somalia -- f;r sie das Ende aller Hoffnungen, die ein letztes Mal aufgeflackert war.
So schl;ssig das Selbstmord-Motiv der H;ftlinge sich ausnimmt, so verquer erscheint die Vorstellung, ein von Bonn oder BND entsandtes Killer-Kommando sei erst unbemerkt in die Anstalt, dann in die Zellen eingedrungen. »Die h;tten«, sagt der Stuttgarter Staatsanwalt Rainer Christ, »50 Komplizen haben m;ssen.«
Die »Telemat«-Anlage mit den beiden Fernsehkameras im H;ftlingstrakt hatte noch am Abend des 17. Oktober um 23 Uhr, als an die Gefangenen die Medikamente ausgegeben wurden, ganz normale Bilder an die Monitoren der Aufsichtskabinen geschickt. Und auch die Herkunft der Schu;waffen gibt zu Deuteleien wenig Anla;.
Die »Heckler & Koch«-Pistole mit dem auswechselbaren Neun-Millimeter-Rohr, die am Morgen an der Hand des sterbenden Jan-Carl Raspe gefunden wurde, war Monate vorher von dem Stuttgarter Anwalt Arndt M;ller in die Anstalt geschmuggelt worden, ebenso die 7,65-Millimeter-»FEG« Baaders. Jedenfalls behauptete dies ein Kronzeuge der Bundesanwaltschaft in mehreren Terroristenverfahren, der aus der Szene ausgestiegene RAF-Logistiker Volker Speitel: Er hat, wie er sagt, die Waffen selbst in M;llers Aktenordner versteckt.
Und die Pfeile jener amerikanischen Giftpistole, die den Ger;chtebrei um Stammheim so recht verfeinerten, verschwinden zwar spurlos im K;rper, nicht aber auch die mit ihnen verschossenen Wirkstoffe. »So etwas h;tte man festgestellt«, versichert der T;binger Gerichtsmediziner Mallach.
Zwar hat der Sachverst;ndige Mallach in jedem seiner vier toxikologischen Gutachten darauf hingewiesen: »Mit den angewandten Methoden werden folgende Substanzgruppen nicht erfa;t: anorganische Verbindungen, tierische und pflanzliche Giftstoffe, die meisten Pflanzenschutz- und Sch;dlingsbek;mpfungsmittel sowie viele als Pharmaka nicht verwendete organische Verbindungen.« Dem Ausschu; sagte er: »Der Teufel ist ein Eichh;rnchen«, und dem SPIEGEL: »Vielleicht gibt es eine Substanz, die uns nicht gel;ufig ist, so da; man sie chemisch-toxikologisch nicht erfassen kann.«
Doch an derart »ganz, ganz Ausgefallenes« mag der Professor, Fachmann S.112 auf dem Gebiet der Toxikologie, nicht glauben: »In der Literatur, in der Weltliteratur ist mir eigentlich so etwas nicht bekannt.« Es gab f;r ihn »keine Anhaltspunkte«, die »erkl;ren k;nnten, da; hier eine Bewu;tlosigkeit eingetreten ist und dann erst in der Bewu;tlosigkeit die Verletzungen erfolgt w;ren«.
Schon gar nicht bei Irmgard M;ller, einzige ;berlebende der Stammheimer Nacht. Sie erz;hlte zwar dem Untersuchungsausschu; allerlei Nebelhaftes. Um kurz nach 5 Uhr, fr;h am 18. Oktober, habe sie, vor sich hind;mmernd, »zweimal einen Knall« und dann ein »Quietschen« geh;rt, und das »alles unheimlich leise«.
Sie sei aber der Sache nicht weiter nachgegangen: »Ich habe mich wieder hingelegt, dann habe ich die Augen zugemacht, bin eingeschlafen ... woran ich mich dann jetzt noch erinnern kann, ist, da; ich aufwachte, also zu Bewu;tsein kam, als man mir die Augen wieder hochzog ... Ich fand mich auf einer Bahre.«
Aber jeglicher Gedanke an Mord ist auch f;r Kriminaloberrat G;nter Textor, damals Chef der »Sonderkommission Stammheim«, abwegig: »Wenn schon Killer, dann lassen die doch nicht einen ;berleben.« Und da gibt es f;r die Staatsanwaltschaft den Umstand »von besonderer Bedeutung«, da; »die gef;hrlichste, eine etwa vier Zentimeter tiefe Stichverletzung trotz gr;;erer Klingenl;nge des zur Tat benutzten Messers im Vorderblatt des Herzbeutels endete, ohne den Herzbeutel selbst zu verletzen«.
»Im Gegensatz zu dem Widerstand«, so die Strafverfolger im Einstellungsbescheid, »der von den ;u;eren K;rperpartien (Haut, Bindegewebe) ausgegangen war, h;tte es n;mlich nach der erreichten Tiefe der Stichverletzung keines gr;;eren Druckes mehr bedurft, um den Herzbeutel zu durchbohren und eine t;dliche Blutung hervorzurufen. Weshalb ein zur T;tung entschlossener Dritter die Stichbewegung abgestoppt haben sollte, w;re nicht verst;ndlich.« Sekundiert Mediziner Rauschke: Es »leuchtet nicht ein, warum man dann das Messer am Herzbeutel abstoppte und nicht eben bis in das Herz vortrieb«.
Auch an den K;rpern der Toten konnten weder die einheimischen noch die eingereisten ;rzte Spuren einer Gewaltanwendung »durch Dritte« ausmachen. An Gudrun Ensslins Leiche entdeckten sie, neben einigen Kratzern an den Oberschenkeln und in der Leistengegend, mehrere Quetschungen und Blutunterlaufungen an den Kniescheiben und an der linken Hand. Gerichtsarzt Rauschke f;hrt die Verletzungen jedoch auf »Krampfbewegungen w;hrend der Erstickung« zur;ck; die Gefangene sei unter anderem gegen den neben ihr stehenden Stuhl gesto;en.
Kollege Mallach ("Das ist nicht so, da; man da so lammfromm h;ngt") erg;nzt: »Man m;;te sie andernfalls ja irgendwie hochgehievt haben.« Aber »Griffspuren«, die »f;r ein Schleifen oder Hochhieven und so weiter gesprochen h;tten«, registrierten die Professoren bei Gudrun Ensslin so wenig wie an den Leichen Baaders und Raspes.
»um Fall Ensslin der Z;rcher Mediziner Hartmann: Wenn sie sich » » nicht wehrt, weil sie bewu;tlos ist, dann k;nnte man sie » » aufh;ngen, ohne da; man Abwehrverletzungen hat. Aber dann mu; » » man sie halten und mu; sie in die Schlinge hinaufheben. Und » » eine bewu;tlose, schlaffe Person, die man halten mu; und » » aufheben mu;, mu; man festhalten. Es ist ;blich, da; man eine » » solche Person unter den Arm nimmt, unter den Armen h;lt. Man » » kann sie ja nicht an den Beinen oder am Unterk;rper halten, » » weil sie sonst vorne;berkippt. Wenn man sie also an den » » Achseln oder an den Armen h;lt, dann sollten Griffspuren » » entstehen. Selbst wenn man diese Griffspuren von au;en nicht » » sieht, so sollte man wenigstens diskrete Gewebsblutungen » » haben. Wir haben die beiden Arme sorgf;ltig untersucht: Es » » ist keine derartige Blutung ;u;erlich oder innerlich » » festgestellt worden. »
L;gen sie, der Christ und der Textor; irren sie, der Hartmann oder der Mallach? Sicher nicht, aber eine Glaubensfrage kann das immer und ewig bleiben.
Die Wahrheit ist so zu packen, wie es die drei ausl;ndischen Gutachter aus Wien, Z;rich und L;ttich in ihren Berichten fast gleichlautend taten: »Es spricht nichts gegen die Annahme, da; es sich um Tod durch Selbstmord handelt.«
S.112
Wenn sie sich nicht wehrt, weil sie bewu;tlos ist, dann k;nnte man
sie aufh;ngen, ohne da; man Abwehrverletzungen hat. Aber dann mu;
man sie halten und mu; sie in die Schlinge hinaufheben. Und eine
bewu;tlose, schlaffe Person, die man halten mu; und aufheben mu;,
mu; man festhalten. Es ist ;blich, da; man eine solche Person unter
den Arm nimmt, unter den Armen h;lt. Man kann sie ja nicht an den
Beinen oder am Unterk;rper halten, weil sie sonst vorne;berkippt.
Wenn man sie also an den Achseln oder an den Armen h;lt, dann
sollten Griffspuren entstehen. Selbst wenn man diese Griffspuren von
au;en nicht sieht, so sollte man wenigstens diskrete Gewebsblutungen
haben. Wir haben die beiden Arme sorgf;ltig untersucht: Es ist keine
derartige Blutung ;u;erlich oder innerlich festgestellt worden.
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S.97 Mit Schaumgummi umh;llte Holzspanplatten, die vor denTerroristenzellen angebracht waren und n;chtliche Rufkontakteunterbinden sollten.*S.104Zu einem 1933 von der »Deutschen Zeitung f;r die gesamtegerichtliche Medizin« behandelten Selbstmord-Fall.*
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Volker Speitel
Volker Speitel (* 1950) ist ein ehemaliges Mitglied der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) und wird deren zweiter Generation zugerechnet. Er wurde 1978 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Nach seiner Verhaftung im Oktober 1977 wurde Speitel einer der wichtigsten Zeugen der Staatsanwaltschaft und machte umfangreiche Angaben ;ber die Abl;ufe innerhalb der RAF. So enth;llte er, wie Schusswaffen und Sprengstoff in pr;parierten Handakten in die JVA Stuttgart-Stammheim geschmuggelt wurden. Mit zwei der Waffen erschossen sich die inhaftierten RAF-Anf;hrer Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in der sogenannten Todesnacht von Stammheim am 18. Oktober 1977.[1]
Leben
Speitel erlernte den Beruf des Grafikers. Seit 1969 war er mit Angelika Speitel verheiratet, die sp;ter ebenfalls RAF-Mitglied wurde. Zusammen mit Christof Wackernagel, Siegfried Hausner, Willy Peter Stoll und seiner Frau lebte Speitel Anfang der 1970er Jahre in einer Stuttgarter Wohngemeinschaft. Er engagierte sich zun;chst in der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe und sp;ter in den sogenannten „Komitees gegen die Folter an politischen Gefangenen in der BRD“, die die Haftbedingungen der ersten Generation der RAF kritisierten.[2] Seit 1973 arbeitete Speitel in der Anwaltskanzlei von J;rg Lang und Klaus Croissant. Nachdem J;rg Lang, der f;r Speitel eine wichtige Bezugsperson war, in die Illegalit;t ging, ;bernahm er einen Teil von dessen Aufgaben.[3]
In einem solchen Versteck in den Handakten hat Volker Speitel nach eigenen Angaben die Waffen deponiert, mit denen sich Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in der sogenannten Todesnacht von Stammheim 1977 erschossen.
Sp;ter pr;parierte er, nach seiner eigenen Aussage, die Handakten der Rechtsanw;lte Arndt M;ller und Armin Newerla unter anderem mit drei Schusswaffen und 650 Gramm Sprengstoff, die in die JVA Stuttgart zu den inhaftierten Terroristen der ersten Generation geschmuggelt wurden.
Der Tod von Holger Meins im November 1974 wurde f;r Speitel zu einem Schl;sselerlebnis. ;ber den Kontakt zu dem Heidelberger Rechtsanwalt Siegfried Haag, Wahlverteidiger von Andreas Baader, schloss er sich der RAF an und lebte kurzzeitig mit einer Gruppe Illegaler in Frankfurt.[4]
;ber seinen Eintritt in die Gruppe sagte er sp;ter:[5]
„Der Eintritt in die Gruppe, das Aufsaugen ihrer Norm und die Knarre am G;rtel entwickeln ihn dann schon, den ‚neuen‘ Menschen. Er ist Herr ;ber Leben und Tod geworden, bestimmt, was gut und b;se ist, nimmt sich, was er braucht und von wem er es will; er ist Richter, Diktator und Gott in einer Person – wenn auch f;r den Preis, da; er es nur f;r kurze Zeit sein kann.“
1975 kehrte Speitel nach Stuttgart zur;ck und war f;r Kurier- und Botendienste zwischen den inhaftierten und freien RAF-Mitgliedern zust;ndig. Die Anwaltskanzlei Croissant war nach Speitels Angaben die Zentrale f;r die Kommunikation zwischen der inhaftierten ersten und der aktiven zweiten Generation der RAF.
Speitel wurde am 2. Oktober 1977 in einem Zug in Puttgarden verhaftet.[6]
Er wurde zusammen mit Hans-Joachim Dellwo im Dezember 1977 angeklagt. Speitel sagte sich im Herbst 1977 von der RAF los und sagte umfangreich aus.[7] Er belastete dabei Peter-J;rgen Boock, Gert Schneider und Christof Wackernagel erheblich. Der gerichtlichen ;berpr;fung seiner Aussagen waren durch kommissarische Zeugenvernehmung im Ausland Grenzen gesetzt, weil Speitel – trotz gerichtlicher Vorladung – zu einigen Gerichtsverfahren nicht erschien und der Bundesminister des Innern sich weigerte, eine „ladungsf;hige“ Anschrift bekanntzugeben.[8] Speitels Aussagen besitzen eine Bedeutung f;r das Verst;ndnis der Vorg;nge in der Todesnacht von Stammheim.[9]
Speitel wurde am 14. Dezember 1978 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren und zwei Monaten Gef;ngnis verurteilt, nachdem er umfangreiche Angaben gemacht hatte, was sich strafmildernd auswirkte. Einzeltaten wurden nicht angeklagt.
Am 1. September 1979 wurde Speitel entlassen und tauchte mit Hilfe des Zeugenschutzprogramms des Bundeskriminalamts ab. Zun;chst war Speitel unter einem anderen Namen mit Hilfe der Beh;rden in Brasilien untergetaucht, wo er eine Werbeagentur betrieb. Bereits nach kurzer Zeit erhielt sein Unternehmen Auftr;ge von VW do Brasil. Da jedoch in Brasilien die Gefahr der Entdeckung gegeben war, siedelte Speitel wieder nach Deutschland ;ber.[10][11] Unter dem Namen Thomas Keller wurde er unter anderem 1985 Werbechef des Anh;nger-Herstellers Westfalia.
1980 ver;ffentlichte Der Spiegel in drei Teilen Speitels autobiografischen Text mit dem Titel „Wir wollten alles und gleichzeitig nichts. Volker Speitel ;ber seine Erfahrungen in der westdeutschen Stadtguerilla“.[12]
Einzelnachweise
Martin Knobbe: Der Ankl;ger und sein Informant. In: Focus, 27. April 2007.
Tobias Wunschik: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF; Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997; S. 205f.
Tobias Wunschik: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF; Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997; S. 206.
Volker Speitel: Wir wollten alles und gleichzeitig nichts. (Interview mit Speitel) In: Der Spiegel Nr. 32/1980, S. 30–39, siehe auch den ersten und dritten Teil des Interviews. In: Der Spiegel, Nr. 31/1980, S. 36–49 und Nr. 33/1980, S. 30–36
Jan Philipp Reemtsma: Lust an Gewalt. In: Die Zeit, 8. M;rz 2007
Martin Knobbe: Der Ankl;ger und sein Informant. In: Stern, 27. April 2007
Peter Henkel: Speitel und Hans-Joachim Dellwo sagen sich von der RAF los. In: Frankfurter Rundschau, 18. November 1978
Tobias Wunschik: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF; Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997; S. 139f.
Thomas Wunschik meinte: „Da; die Aussagen der RAF-Aussteiger aus der DDR in wesentlichen Punkten ;bereinstimmen, k;nnte theoretisch das Resultat einer Absprache zwischen den Angeklagten (bzw. ihren Verteidigern) sein, an der sogar die Bundesanwaltschaft, die glaubw;rdige Kronzeugen zu gewinnen suchte, partizipiert haben k;nnte. Tats;chlich hat es solche ;bereink;nfte vor Beginn der Vernehmungen des im Herbst 1977 festgenommenen Volker Speitel gegeben.“ In: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF; Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997; S. 150 mit Verweis auf Anm. 813: Rolf G;ssner: Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im pr;ventiven Sicherheitsstaat; Terroristen & Richter 2; Hamburg: VSA, 1991; S. 139
Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. 1. Auflage der Neuausgabe, erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Hoffmann und Campe, 2017, ISBN 978-3-455-00033-7, S. 829.
G;nter Handl;gten, Werner Mathes, Rainer N;bel: Die Nacht von Stammheim. In: Stern, 9. Oktober 2002
FOCUS Online: Der Meistersinger der RAF. In: FOCUS Online. (focus.de [abgerufen am 22. Oktober 2017]).
Volker Speitel: Wir wollten alles und gleichzeitig nichts. In: Der Spiegel, Teil 1 (Nr. 31/1980), Teil 2 (Nr. 32/1980), Teil 3 (Nr. 33/1980), Gegendarstellung (Nr. 37/1980)
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Alle 40 m;ssen raus!
anarchistische Gemeinschaft
Jul 23, 2016
Interviews mit Irmgard M;ller, Christine Kuby, Hanna Krabbe und Gabriele Rollnik - Gefangenen in L;beck im Jahr 1992.
Die Gefangenen aus der RAF sind nicht nur eingesperrt, sondern seit bis zu 26 Jahren weggesperrt. Sie haben zwar eine Knastanschrift aber tats;chlich sind sie Verschwundene.
Die Wenigen, die sie besuchen k;nnen, nehmen erhebliche Risiken auf sich: ;berwachung, Berufsverbote, Staatsschutzschikanen. Alle anderen k;nnen nur auszugsweise und bruchst;ckhaft, oder von fremden Interessen bestimmt, etwas ;ber die Gefangenen erfahren. Vor dem Hintergrund des Deeskalationsangebotes der RAF 1992 und der zun;chst hoffnungsvoll erscheinenden "Kinkel-initiative" haben die Justizminister Schleswig-Holsteins und Niedersachsens 1993 die Pforten ge;ffnet. Erstmals konnten Kamerateams in der JVA L;beck und Celle drehen
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Die Todesnacht von Stammheim. Das StadtPalais auf Spuren der RAF im Strafvollzugsmuseum Ludwigsburg.
StadtPalais – Museum f;r Stuttgart
Oct 18, 2022 STRAFVOLLZUGSMUSEUM
Die Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 ist ein Moment, in dem Stuttgart in den Fokus der deutschen Geschichte r;ckte. Genau gesagt lag der Fokus auf dem 7. Stock des Bau 1 der Strafvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim. Dort vollzogen die Mitglieder der linksterroristischen Roten Armee Fraktion Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und die schwer verletzt ;berlebende Irmgard M;ller als Reaktion auf die Befreiung der Landshut-Geiseln in Mogadischu kollektiven Selbstmord. Bis heute sind Fragen zur Rolle der Beh;rden bei der ;berwachung der H;ftlinge in dieser Nacht und in den Jahren zuvor offen und werden bis heute intensiv diskutiert.
Anl;sslich des 45. Jahrestages geht das StadtPalais mit der Filmkamera den Geschehnissen insoweit auf den Grund, dass es die Sammlung des Strafvollzugsmuseums mit Objekten aus den Zellen von Andreas Baader und Jan-Carl Raspe besucht. Im Gespr;ch mit der Leiterin des Strafvollzugsmuseums, Susanne Opfermann, begutachtet der Direktor des StadtPalais von den RAF-H;ftlingen selbstgebaute Pizza;fen, Herdplatten, Tauchsieder und Tresore. Zumeist waren diese Gegenst;nde wie auch die beiden Schusswaffen, mit denen sich Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in der Todesnacht erschossen, aufwendig versteckt, wie im Strafvollzugsmuseum eindrucksvoll nachzuvollziehen ist. Begleitet von der Kamera besuchten Opfermann und Giese auch eine original wiederaufgebaute H;ftlingszelle auf dem 5. Stock des Bau 1 in Stammheim, um sich ein Bild von den unterschiedlichen Untersuchungshaftbedingungen f;r die normalen und die RAF-H;ftlinge zu machen.
Kooperationspartner: Strafvollzugsmuseum Ludwigsburg
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