Russian Tee Party

Да я за то, чтоб меня не беспокоили, весь свет сейчас же за копейку продам. Свету ли провалиться, или вот мне чаю не пить? Я скажу, что свету провалиться, а чтоб мне чай всегда пить.

Ф. М. Достоевский. Записки из подполья. II


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Russland-Politik mit Dostojewski

Warum heutige Politiker russische Literatur des 19. Jahrhunderts lesen sollten.
vom 11.11.2021, 10:00 Uhr

01.10.2022 82
Heute, am 11. November, h;tte der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski seinen 200. Geburtstag gefeiert. Dostojewski und Lew Tolstoi (der in sieben Jahren ebenfalls 200 Jahre alt geworden w;re) stellen den H;hepunkt russischen literarischen Schaffens dar, und es ist nicht ;bertrieben zu sagen, dass in der gesamten Literaturgeschichte nur wenige das Niveau dieser beiden Giganten erreicht haben. Doch Dostojewskis Relevanz beschr;nkt sich nicht nur auf das 19. Jahrhundert, sondern betrifft auch die aktuellen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.

Ralph Sch;llhammer ist Assistenzprofessor f;r Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversit;t Wien (Twitter: @raphfel). - © privat
Ralph Sch;llhammer ist Assistenzprofessor f;r Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversit;t Wien (Twitter: @raphfel). - © privat
Eines der wichtigsten Themen seiner Romane ist die komplexe Beziehung zwischen Rationalit;t und Moral, Emotion und Berechnung. In "Schuld und S;hne" verarbeitet Dostojewski sein wichtigstes philosophisches Argument, n;mlich dass sich die menschliche Existenz nicht auf eine maschinelle Nutzenmaximierung reduzieren l;sst. In "Die D;monen" beschreibt er, wie das zaristische Russland von allen Seiten durch neue Ideologien attackiert wird, und verschiedene -ismen von Nihilismus bis Sozialismus um die russische Seele ringen.

Der Moskauer Kreml (links die alte R;stkammer, in der Mitte der Dreifaltigkeitsturm, rechts das Arsenal) zu Zeiten Fjodor Dostojewskis in den 1840er Jahren (der Maler ist unbekannt). - © Archiv
Der Moskauer Kreml (links die alte R;stkammer, in der Mitte der Dreifaltigkeitsturm, rechts das Arsenal) zu Zeiten Fjodor Dostojewskis in den 1840er Jahren (der Maler ist unbekannt). - © Archiv
W;hrend in den europ;ischen Salons das Zeitalter der Vernunft gefeiert wurde, sah Dostojewski, was sich im Schatten der Moderne formierte: politische Religionen und die Keimzellen des Totalitarismus, die Europa und die Welt in den Jahren nach seinem Tod mit industriellem Massenmord unvergleichlichen Ausma;es ;berzogen haben. Wie sein russischer Landsmann, der Literatur-Nobelpreistr;ger Alexander Solschenizyn, einmal feststellte: "Es scheint als ob einzig und allein Dostojewski das Kommen des Totalitarismus voraussah."

Und hier ist die zeitgen;ssische Relevanz von Dostojewski: Obwohl er ein russischer Autor war, war sein Denken und sein Verstehen der Welt tief von der europ;ischen Aufkl;rung und den Widerspr;chen der Moderne gepr;gt. Die Probleme, die er anspricht, besch;ftigten auch den franz;sischen Novellisten Gustave Flaubert - der ebenfalls 1821 geboren wurde - in seinem Buch "Madame Bovary". Ebenso sind Tolstois "Krieg und Frieden", aber insbesondere "Anna Karenina" nicht einfach angestaubte Romane, sondern komplexe Auseinandersetzungen mit den Verwerfungen, die durch ein sich rapide modernisierendes Europa entstanden sind. Es ist schade, dass russische Literatur nur einen so bescheidenen Stellenwert im westeurop;ischen Schul- und Universit;tssystem einnimmt, da ein besseres Verst;ndnis von hoher Bedeutung f;r die aktuelle Politik gegen;ber Russland w;re.

Ein Spiegelbild Westeuropas
Obwohl Russland bereits zur Zarenzeit aufgrund seiner Geschichte und schieren geografischen Ausbreitung eine Sonderstellung einnahm, waren die Eliten des Landes in ihrer kulturellen Pr;gung nur schwer von westeurop;ischen Nationen zu unterscheiden. Aber auch in anderen Bereichen durchlief das Land eine Entwicklung, die spiegelbildlich auch im Rest Europas stattfand. So nahm im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Religion ab und wurde durch einen wachsenden Nationalismus ersetzt, Industrialisierung, ethnische Konflikte, der Wunsch nach mehr politischer Beteiligung eines wachsenden B;rgertums - all das fand von Washington bis London, von Wien bis Berlin ;berall im Westen statt.

Der tats;chliche Bruchpunkt Russlands mit dem Westen fand mit der Bolschewistischen Revolution 1917 statt, und dieses Datum h;ngt immer noch wie ein Damoklesschwert ;ber einer tats;chlichen Ann;herung zwischen Russland und dem Westen. Es war die Entstehung der Sowjetunion, die Russlands Geschichte als europ;ische Kulturnation ausl;schte. Ein Land, das Dostojewski, Tolstoi und Peter Iljitsch Tschaikowski hervorbrachte, dessen Kaiserin Katharina einen regen Austausch mit den Aufkl;rern Denis Diderot und Voltaire pflegte, wurde zu einem Gulag-Staat und eines der ersten totalit;ren Experimente.

Bis heute leidet Russland an der Bipolarit;t seiner Geschichte, aufgrund derer es sich sowohl als europ;isches als auch nicht-europ;isches Land versteht. Noch schlimmer wiegt, dass in der historischen Erinnerung der Sowjetunion gelungen ist, was dem "europ;ischen" Russland verweigert blieb: der Aufstieg zur absoluten Supermacht zur Zeit des Kalten Krieges.

Kulturelle Ann;herung
Was die Situation zus;tzlich verschlimmert, ist, das die Wahrnehmung Russlands im Rest der Welt immer noch zu sehr durch die Sowjetunion gepr;gt ist. Mit wenigen Ausnahmen beginnt das Wissen ;ber Russland in der ;sterreichischen Polit- und Universit;tslandschaft mit Wladimir Lenin und Josef Stalin, w;hrend die europ;ische Periode nahezu komplett ausgeklammert wird. Wer mit dem Kreml immer noch so verhandelt, als w;rde es sich um die UdSSR handeln, darf nicht ;ber eine post-sowjetische Au;enpolitik ;berrascht sein.

Eine Ann;herung an Russland m;sste prim;r im kulturellen Bereich stattfinden und damit auch Russlands Eliten daran erinnern, dass ihre Zukunft im Westen und nicht in einem - bereits einmal gescheiterten - B;ndnis mit China liegt. Das Betonen gemeinsamer historischer Erfahrungen und die Anerkennung der kulturellen Leistungen Russlands w;ren vertrauensbildenden Schritte, die gerade bei einer von Selbstzweifeln geplagten Nation gro;en Widerhall f;nden. Vielleicht k;nnte man im Zuge von Dostojewskis rundem Geburtstag dar;ber in Wien und Br;ssel einmal nachdenken.

Schlagworte
GastkommentarRusslandFjodor DostojewskiGeopolitik


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