Freies Geleit
Freies Geleit (oder sicheres Geleit) bezeichnet eine Zusage an eine bestimmte Person, nicht bel;stigt, angegriffen oder verhaftet zu werden.
Im Juli 1522 w;hrend des Wiener Neust;dter Blutgerichts ausgestellte Zusicherung freien Geleits durch Erzherzog Ferdinand von ;sterreich
Strafprozessrecht
Im Strafprozessrecht bezeichnet „sicheres Geleit“ die Zusage eines Gerichts an einen Beschuldigten, ihn im Zugriffsbereich der Justizorgane nicht in Gewahrsam zu nehmen. Eine solche Zusage soll wichtige Zeugen eines Verfahrens, die sich im Ausland aufhalten, zur Einreise und Aussage bewegen. In Deutschland bildet § 295 StPO die Rechtsgrundlage f;r eine solche Zusage, in ;sterreich § 197 StPO, in der Schweiz Art. 204 StPO.
Auch in v;lkerrechtlichen Vereinbarungen ;ber die Rechtshilfe in Strafsachen gibt es h;ufig Bestimmungen, deren Zweck es ist, bei der ;berstellung eines Zeugen vom In- ins Ausland oder bei seiner Ladung zu einer Vernehmung im Ausland zu gew;hrleisten, dass er im Ausland nicht wegen einer fr;heren Tat verfolgt wird. Sie k;nnen als Ausdruck einer jedenfalls begrenzten Anerkennung des Rechts auf freies Geleit verstanden werden.
Kriegsv;lkerrecht
Freies Geleit bezeichnet ferner die Situation in Zeiten internationaler Konflikte oder Kriege, in der eine Partei des Konflikts einer gegnerischen Person ein Dokument ausstellt, das der Person die Durchquerung des Gebiets erlaubt, ohne Bel;stigungen oder Angriffe auf Leib und Leben bef;rchten zu m;ssen.
Ein Beispiel f;r solches freies Geleit ist die Reise Lenins im plombierten Wagen w;hrend des Ersten Weltkrieges im April 1917: Als B;rger Russlands, das im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich war, durfte er es auf dem Weg nach Russland durchqueren, da sich die deutsche Regierung davon eine Destabilisierung Russlands versprach.
Siehe auch
Geleitrecht (Rechtsgeschichte)
Gesetz ;ber befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit
Diplomatische Immunit;t
Einzelnachweise
BGH, Urteil vom 24. Februar 1988, Az. 3 StR 476/87, Volltext.
Meyers Konversationslexikon: Geleit, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, 4. Auflage, 1885–1892.
Was war am 23. M;rz 1917 auf chroniknet.de
Leo am Zug. In: Der Spiegel. Nr. 32, 1987 (online).
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Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?
Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? ist ein Essay des Schriftstellers Heinrich B;ll, der unter diesem von der Redaktion ge;nderten Titel[1] am 10. Januar 1972 in der Zeitschrift Der Spiegel ver;ffentlicht wurde und einen innenpolitischen Skandal ausl;ste. B;ll setzte sich in dem Text mit den Motiven und Methoden der damals aufkommenden linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) auseinander und kritisierte gleichzeitig die Berichterstattung der Medien, vor allem der Boulevardzeitung Bild des Springer-Verlags. Er wollte damit nach eigenen Worten eine Art Entspannung in der ;ffentlichen Debatte herbeif;hren und die Gruppe versteckt zur Aufgabe bewegen.
Stattdessen wurde er vor allem im konservativen politischen Lager als Sympathisant des Terrors angesehen und in Politik und Medien heftig angegriffen.
Entstehung und Verf;lschung des Titels
B;ll schrieb den Text zwischen dem 23. und 26. Dezember 1971. Der Titel lautete urspr;nglich Soviel Liebe auf einmal, ein ironischer Bezug auf eine ;berschrift der Bild in der Weihnachtszeit. Gegen den ausdr;cklichen Wunsch B;lls wurde der Titel in der Spiegel-Redaktion abge;ndert. Der einer Textpassage des Essays („Will Ulrike Meinhof, da; es so kommt? Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit?“) entlehnte Titel ist insofern h;chst problematisch, als er durch die – von B;ll selbst nicht benutzte – Anrede mit dem Vornamen f;lschlich eine pers;nliche Bekanntschaft bzw. Vertrautheit zwischen B;ll und dem RAF-Mitglied Meinhof suggeriert, die tats;chlich jedoch nicht bestand.[2]
Inhalt
Im Text wendet B;ll sich gegen die Bild, welche am 23. Dezember 1971 unter der ;berschrift Baader-Meinhof-Bande mordet weiter ;ber diverse Straftaten berichtete, welche der RAF zugeschrieben wurden, ohne dass deren Tatbeteiligung im Einzelfall nachgewiesen wurde. Anlass f;r den Bild-Artikel war der Bank;berfall am 22. Dezember 1971, bei dem der Polizist Herbert Schoner erschossen wurde. Hauptkritikpunkt B;lls war die Berichterstattung, welche als Tatsache hinstellte, was seinerzeit noch nicht gesicherte Erkenntnis war:
„Wo die Polizeibeh;rden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild wei;.“
Er kritisierte Bild mit ;u;erst scharfen Worten und warf ihr implizit die zwangsl;ufig folgende Eskalation der Gewalt vor:
„Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, L;ge, Dreck. Diese Form der Demagogie w;re nicht einmal gerechtfertigt, wenn sich die Vermutungen der Kaiserslauterer Polizei als zutreffend herausstellen sollten. In jeder Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verd;chtigte ein Recht, da;, wenn man schon einen blo;en Verdacht publizieren darf, betont wird, da; er nur verd;chtigt wird. Die ;berschrift »Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter« ist eine Aufforderung zur Lynchjustiz. Millionen, f;r die Bild die einzige Informationsquelle ist, werden auf diese Weise mit verf;lschten Informationen versorgt.“
Da die Gruppe um Ulrike Meinhof B;lls Sch;tzung nach nur sechs Mitglieder hatte, sei es abwegig, von einem nationalen Notstand auszugehen, wie ihn die Berichterstattung der Bildzeitung nahelege. Doch auch Meinhof selbst wurde von B;ll scharf kritisiert:
„Kein Zweifel – Ulrike Meinhof lebt im Kriegszustand mit dieser Gesellschaft. Jedermann konnte ihre Leitartikel lesen. jedermann kann […] das Manifest lesen, das nach dem Untertauchen der Gruppe geschrieben ist. Es ist inzwischen ein Krieg von 6 gegen 60 000 000. Ein sinnloser Krieg, nicht nur nach meiner Meinung, nicht nur generell, auch im Sinne des publizierten Konzeptes.“
Nachwirkung
In konservativen Kreisen galt B;ll seitdem als „Sympathisant des Terrorismus“, was ihn nach eigenem Bekunden sehr kr;nkte und im Widerspruch zu den sehr RAF- und Gewalt-kritischen Grundaussagen des Essays stand.[3] Zum Beispiel bezeichnete der Chefredakteur der Wochenzeitung Christ und Welt, Ulrich Frank-Planitz, B;ll in einem vom S;dwestfunk verantworteten Fernsehkommentar als „salonanarchistischen Sympathisanten“ der RAF, woraufhin B;ll in einem Telegramm an SWF-Intendant Helmut Hammerschmidt gegen die „faschistisch-verleumderische Tendenz“ des Kommentars protestierte und seine Mitarbeit bei dem Sender aufk;ndigte. Kurz darauf k;ndigte er ebenso seine Zusammenarbeit mit anderen Institutionen auf, darunter das ZDF und das Goethe-Institut.[4]
Vor allem konservative Politiker bezogen ;ffentlich Stellung gegen B;ll, darunter Hans Karl Filbinger, Bernhard Vogel, Rudolf Titzck (alle CDU), Bruno Merk (CSU) und die Junge Union, aber auch Karl Hemfler (SPD).[5] Der nordrhein-westf;lische Minister f;r Bundesangelegenheiten Diether Posser (SPD) ver;ffentlichte im Spiegel vom 24. Januar 1972 einen Kommentar, in dem er B;ll unter anderem kritiklose ;bernahme von Verlautbarungen der RAF sowie gef;hrliche Verharmlosung der Gruppe vorwarf und zu dem Fazit gelangte, dass der im Zorn entstandene Essay B;lls unsachlich und ;bertrieben gewesen sei.[6] B;ll antwortete darauf am 31. Januar mit einem Beitrag „Verfolgt war nicht nur Paulus“, in dem er Posser in mehreren Punkten zustimmte und zusammenfasste:[7]
„Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuf;hren und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, da; ich das Ausma; der Demagogie, die ich heraufbeschw;ren w;rde, nicht ermessen habe.“
In seinem am 29. Januar 1972 in der S;ddeutschen Zeitung abgedruckten Artikel Man mu; zu weit gehen stellte B;ll klar:
„Ich habe die Gruppe um Ulrike Meinhof relativiert – ja. Verharmlost nein. Ich habe versucht, die Proportionen zurechtzur;cken. Nichts weiter.“
Weiter bemerkte er:
„Der Spiegel-Artikel hat Schw;chen, weniger in dem, was drin steht, als in dem, was nicht drin steht; es fehlt eine umfassende Studie ;ber die Eskalation: von der Erschie;ung Benno Ohnesorgs bis zum Attentat auf [Rudi] Dutschke.“
Obgleich B;ll auch vorher schon seine politische Meinung ;ffentlich ge;u;ert hatte, begann mit dieser Schrift gewisserma;en seine „politische Karriere“ und eine entsprechende Wahrnehmung in der ;ffentlichkeit.[8] Am 1. Juni 1972 – dem Tag der Verhaftung von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins – kam es zu einem B;ll ver;rgernden Polizeieinsatz in seinem Wohnhaus, um die Identit;t eines befreundeten Ehepaars zu ;berpr;fen, das ihn besuchte.[9]
1974 griff B;ll die im Essay erstmals thematisierte kritische Wechselbeziehung von Boulevardjournalismus und linksradikaler Protestbewegung in der Erz;hlung Die verlorene Ehre der Katharina Blum erneut auf. In der Rezeption wurde auch die Kontroverse von 1972 aufgegriffen.
Literatur
Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? In: Der Spiegel. Nr. 3, 1972, S. 54–57 (online – Originaltext). Archiviert unter: Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? (Memento vom 2. April 2012 im Internet Archive)
R;ckspiegel: Zitate. In: Der Spiegel. Nr. 4, 1972, S. 118 (online). Archiviert unter: R;ckspiegel: Zitate (Memento vom 19. Juni 2013 im Webarchiv archive.today)
Hanno Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die ;ffentliche Debatte ;ber die RAF in den 70er Jahren. Campus, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-593-38723-9.
Heinrich B;ll: Freies Geleit f;r Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Gr;tzbach. Kiepenheuer & Witsch, K;ln 1972, ISBN 3-462-00875-7.
Angelika Ibr;gger: Die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer ‚lernenden Demokratie‘. Heinrich B;ll als Intellektueller zu Beginn der Terrorismusdiskussion. In: Der „Deutsche Herbst“ und die RAF in Politik, Medien und Kunst: Nationale und Internationale Perspektiven. Hrsg. von Nicole Colin u. a., Transcript, Bielefeld 2008, S. 156–169.
Hans Mathias Kepplinger, Michael Hachenberg & Werner Fr;hauf: Struktur und Funktion eines publizistischen Konflikts. Die Auseinandersetzung um Heinrich B;lls Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ In: Publizistik. 22, 1977, S. 14–34.
Robert Weninger: Streitbare Literaten: Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. C. H. Beck, M;nchen 2004, ISBN 3-406-51132-5.
Weblinks
Heinrich B;ll: Leben und Werk. Kapitel 7: Die Terrorismusdiskussion, Website der Heinrich-B;ll-Stiftung, 2005 (Bilder der damaligen Ver;ffentlichungen)
Publizistik: »Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?« (1972) im Dossier Zum 90. Geburtstag von Heinrich B;ll der Heinrich-B;ll-Stiftung, 22. Januar 2008
Einzelnachweise
Zitiert nach: »Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?« (1972). In: Heinrich-B;ll-Stiftung. 22. Januar 2008, abgerufen am 10. Januar 2022.
Heinrich B;ll: Werke. K;lner Ausgabe. Band 18. Kiepenheuer & Witsch, 2003, ISBN 3-462-03260-7, S. 454 f.
Heinrich B;ll: Werke. K;lner Ausgabe. Band 18. Kiepenheuer & Witsch, 2003, ISBN 3-462-03260-7, S. 483 f.
Robert Weninger: Streitbare Literaten. S. 92.
Angelika Ibr;gger: Die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer ‚lernenden Demokratie‘. S. 158.
Diese Praxis ist verheerend. In: Der Spiegel. Nr. 5, 1972, S. 40–41 (online).
Verfolgt war nicht nur Paulus. In: Der Spiegel. Nr. 6, 1972, S. 60 (online).
Christiane Grefe: Literatur: Wo ist B;ll? In: Die Zeit. 32/2007, 2. August 2007, archiviert vom Original am 26. April 2014; abgerufen am 10. Januar 2022.
Robert Spaemann: Kaffee, Kuchen und Terror. In: Die Zeit. 19/1998, 29. April 1998, archiviert vom Original am 8. Mai 2014; abgerufen am 10. Januar 2022.
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