Ambivalenz

#Ambivalenz: Der Nutzen des Nicht-Entscheidens
Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl, Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts“, Biennale Venedig 2022; Quelle: ndion.de
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Geschichten der Gegenwart Reizw;rter Gespr;che Lesezeichen English Articles
 
Der Begriff Ambivalenz bezeichnet Widerspr;che, die nebeneinander existieren. Aktuell wird er oft sehr vage benutzt, was verschleiert, wie aktuell er eigentlich sein k;nnte. Dies zeigen Beispiele aus der Literatur von Franz Kafka bis Kim de l’Horizon.

25. Januar 2023 Lesezeit ca. 8 Minuten
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Caspar Battegay
Caspar Battegay
Caspar Battegay ist Dozent f;r Kultur und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er unterrichtet zudem Neuere deutsche Literatur an der Universit;t Basel. Seine Habilitation ist 2018 unter dem Titel „Geschichte der M;glichkeit. Utopie, Diaspora und die ‚j;dische Frage‘“ im Wallstein Verlag erschienen.
Alles ist ambivalent. Als «ambivalent» wird der Umgang des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs bezeichnet, «ambivalent» sei «die Position des Westens» gegen;ber der angegriffenen Ukraine, ein neues Elektropop-Album klingt «schillernd ambivalent» und die Lifestyle-Zeitschrift GQ diagnostiziert, dass «ambivalentes Verhalten des Chefs» f;r ein «schlechtes Arbeitsklima» sorge.


Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl, „Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts“, Biennale Venedig 2022; Quelle: ndion.de

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Die Feststellung, dass die Welt verwirrend vieldeutig und anstrengend sein kann, ist banal. Dass sie ambivalent ist, scheint hingegen irgendwie interessant. Doch was hat es mit dem Begriff der Ambivalenz auf sich? Begriffsgeschichtlich ist er zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Psychiatrie, ab den 1960er Jahren durch die Soziologie gepr;gt worden. Ein Blick auf diese Geschichte zeigt zum einen, dass die aktuelle Verwendung oft diffus ist, das spezifische Potenzial des Begriffs aufl;st und mit Widerspr;chlichkeit oder blo; Komplexit;t synonym setzt. Zum anderen wird aber ersichtlich, wie der Begriff der Ambivalenz tats;chlich geeignet ist, bestimmten Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden.

Zur psychoanalytischen Begriffsgeschichte der Ambivalenz

Eugen Bleuler; Quelle: wikipedia.org

Der Neologismus Ambivalenz (vom Griechischen amphi = zweifach, doppelt und Lateinischen valere = gelten, stark/kr;ftig sein) ist etwas mehr als hundert Jahre alt. Erfunden hat ihn der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, langj;hriger Direktor der Psychiatrischen Universit;tsklinik «Burgh;lzli», der ihn bei einem Vortrag anl;sslich der «Ordentlichen Winterversammlung des Vereins schweizerischer Irren;rzte» in Bern am 26. November 1910 in den medizinischen Diskurs einf;hrt. Bleuler unterscheidet graduell eine ‹normale› Ambivalenz von einer ‹pathologischen› Ambivalenz, in der Gef;hls- oder Wahrnehmungsgegens;tze unaufgel;st und teilweise unbewusst f;r lange Zeit «nebeneinander bestehen» blieben. Mit seinem Begriff beabsichtigte er zun;chst eine Charakterisierung krankhafter Strukturen des Erlebens bei einer ‹Schizophrenie› (ein weiterer Begriff, den Bleuler pr;gt, um damit die Bezeichnung ‹Dementia Preacox› zu ersetzen). Die Psychoanalyse nimmt den Terminus schnell in ihre Fachsprache auf. Sigmund Freud benutzt ihn mehrmals vor allem im Zusammenhang der Libidotheorie und des so genannten ;dipuskomplexes. In seinen Vorlesungen zur Einf;hrung in die Psychoanalyse (1916/17) spricht Freud von der «Gef;hlsambivalenz» zwischen Zuneigung und Aggression in der Prim;rbeziehung zu den Eltern und popularisiert damit die Idee der ‹Hassliebe›.

Bleuler schreibt in einem Vortrag mit dem Titel «Die Ambivalenz» (1914): Der Begriff «ist geschaffen worden zur Heraushebung der Eigenschaften der Schizophrenen, einesteils nebeneinander mit zweierlei Affekten auf die gleiche Idee zu reagieren, und anderseits die n;mliche Idee positiv und negativ zu denken.» Diese Definition unterscheidet zwischen affektiver und intellektueller Ambivalenz, was f;r den Begriffsgebrauch bis heute typisch ist. Bleuler schildert einige anschauliche Beispiele aus seiner ;rztlichen Praxis: «Da glaubt eine Frau, ihr Mann sei in der Anstalt eingesperrt. Wenn ich ihr sage, er sei nicht eingesperrt, so ist das f;r sie ganz gleichbedeutend, wie wenn ich ihr sage, er sei es. So wird auch die Bedeutung der Worte oft ganz systematisch verkehrt wie im Traum: ‹Gift› kann ‹Speise› bedeuten, ‹Lohn› ‹Strafe› usw.» Ambivalenz besteht also auf einem zeitlichen und inhaltlichen Zugleich sich ausschlie;ender Wahrnehmungen, aber auch auf einem semantischen Zugleich. Dieses geht ;ber die rhetorische Figur des Oxymorons hinaus, das wir etwa aus der mystischen Rede kennen: In Wendungen wie der ‹h;chsten Tiefe› oder der ‹hellsten Nacht› wird beispielsweise in der christlichen Mystik des Mittelalters das ;ber jede rationale Erfassung hinausgehende Wesen Gottes bezeichnet.

„Sp;testens seit der Jahrtausendwende scheint die Ambivalenz ihr Beunruhigungspotenzial verloren zu haben. Vieldeutigkeit und Diversit;t werden zumindest im Westen gefeiert und zunehmend eingefordert.“
Doch in der Bleuler’schen Pr;gung bezeichnet Ambivalenz nicht die Aufhebung einer Differenz, auch nicht ein Entweder-Oder oder einen simplen Widerspruch, sondern die Erfahrung, dass Differenzen unvers;hnlich «nebeneinander» bestehen. Zudem meint sie auch keinen Zustand an sich, eine Art des Seins eines Dings, Gottes oder eines Menschen. Der Soziologe Kurt L;scher betont in seinen Arbeiten, dass Ambivalenz immer auf «Modi des Erfahrens, vor allem des Verstehens, Beschreibens und Gestaltens von sozialen Beziehungen» verweist. Ambivalenzerfahrungen sind demnach stets relational verfasst und beziehen sich auf Prozesse der Identit;tsbildung, die in Momenten des Zauderns, des Anhaltens der Zeit und in R;umen vor Entscheidungen vonstatten gehen.

Kafkaeske Ambivalenz

Franz Kafka, 1922; Quelle: sueddeutsche.de

Es ist beispielsweise weniger relevant zu beschreiben, inwiefern ein Kunstwerk, ein literarischer Text oder ein Film ambivalent ist, als aufzuzeigen, wie Kunst relational auf eine bereits bestehende Ambivalenz aufmerksam macht. Ein ber;hmtes Beispiel f;r eine ambivalente Beziehung gegen;ber dem eigenen Schaffen, also der Existenz als K;nstler oder Schriftsteller in einer b;rgerlichen Welt, bietet das Werk von Bleulers Zeitgenosse Franz Kafka. Im legend;ren Brief an Max Brod vom November 1922 schreibt Kafka, dass er nur f;nf seiner publizierten Texte als erhaltenswert ansieht, allerdings meine er «damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie m;gen neu gedruckt und k;nftigen Zeiten ;berliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.» Kafkas zweimal wiederholter «Wunsch» wird noch weniger eindeutig in der Instruktion Brods, den restlichen Nachlass «ausnahmslos zu verbrennen»: Doch «wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten w;re es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen». Die in dieser Anweisung gegen;ber dem Werk zutage tretenden Ambivalenz zwischen Scham und Stolz spiegelt sich immer wieder in Kafkas Texten. Eindr;cklich beschreibt er beispielsweise «ein eigent;mliches Tier, halb K;tzchen, halb Lamm», das nicht nur zoologisch eine Unm;glichkeit darstellt, sondern auch semantisch sich ausschlie;ende Eigenschaften aufweist: Seine Augen sind zugleich «flackernd und mild», seine Bewegungen sind «sowohl H;pfen wie Schleichen». Dieser «Kreuzung» zwischen Opferlamm und m;rderischem Raubtier sei «die Haut zu eng», die eigene Existenz wird also als unm;gliche erfahren. Diese Erfahrung kann als Kafkas Einzelg;ngerexistenz in der vom Ehe- und Familienideal gepr;gten j;dischen B;rgertum seiner Zeit gedeutet werden, zeigt ihn aber auch als Angeh;riger der doppelten, deutschsprachigen j;dischen Minderheit in Prag.

Signifikant war f;r Kafka auch der sehr aufmerksam verfolgte zionistische Diskurs, also die Debatten um j;dische Identit;t in Europa, bei denen sich etwa sein Freund Max Brod als eine prominente Stimme beteiligte. Zentral in diesem Diskurs war die «Gemeinschaft», der sich individuelle W;nsche unterzuordnen hatten. Solche Ideen einer einheitlichen Gemeinschaft parodiert Kafka etwa im postum als «Forschungen eines Hundes» betitelten Erz;hlfragment. Ein Hund fantasiert vom Mark in einem Knochen, den zwar nur das gemeinschaftliche Bei;en aller Hunde aufknacken k;nnte, den er aber ganz allein ausschl;rfen m;chte. Dies sei jedoch nur ein «Bild»: «Das Mark, von dem hier die Rede ist, ist keine Speise, ist das Gegenteil, ist Gift.» Es ist bezeichnend, dass Kafka in seinem «Bild» f;r das ambivalente Dasein als Outsider, der sich doch einem Kollektiv zuordnet, die gleiche Ambivalenz beschreibt wie Bleuler in seinen psychiatrischen Beobachtungen: «‹Gift› kann ‹Speise› bedeuten».

Ambivalenz als Triebfeder der Dichtung

Louise Bourgeois, Spiral; Quelle: nationalgalleries.org

Bereits Bleuler bemerkt, dass die Ambivalenz «eine der wichtigsten Triebfedern der Dichtung» darstelle. Auch Freud betont neben der psychiatrischen Bedeutung vor allem in seinen sp;teren Schriften die grundlegende Bedeutung der Ambivalenz f;r jedes Verst;ndnis von Kultur. Er beschreibt etwa das «Schuldgef;hl» – eine Emotion, die das Schreiben Kafkas ma;geblich bestimmt –, als «Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktion- und Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird […].«

Diese «Aufgabe des Zusammenlebens» ist eine soziale Konstante. F;r Kafka bestand sie in Bezug auf seine Familie, seine scheiternden Beziehungen zu Frauen und seine von der zionistischen «Gemeinschaft» begeisterten j;dischen Freunde. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman deutet Kafka in seinem Buch Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (1991) als paradigmatische Figur, die f;r die «Wurzellosigkeit» des europ;ischen Judentums und damit des modernen Subjekts insgesamt stehe. Bauman definiert die Ambivalenz als M;glichkeit, «einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen». Die Moderne dagegen sieht er vor allem als Epoche, in der die Ordnungen der Welt und des Selbst reflektiert werden. Der moderne Nationalstaat ordnet ein Territorium nach Sprache und «Rasse»; der moderne Intellekt klassifiziert und definiert, trennt zum Beispiel Normales von Anormalem, Gesundes von Krankem. Doch das Verh;ltnis von Ordnung und Ambivalenz ist selbst ambivalent und bewirkt nach Bauman ein Paradox: Jeder Ordnungsversuch resultiere in neuen Ambivalenzen. «Ambivalenz stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge f;r die Moderne dar, da sie […] mit jedem Erfolg der modernen M;chte an St;rke zunimmt.» Wenn man diese Aussagen zugespitzt verstehen m;chte, dann w;re die von Bleuler festgestellte Ambivalenz der Patientin also nur ein Ergebnis der psychiatrischen Ordnungsversuche.

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Vielseitigkeit als Kritik

Kim de l’Horizon; Quelle: schweizer-illustrierte.ch

Sp;testens seit der Jahrtausendwende scheint die Ambivalenz ihr Beunruhigungspotenzial verloren zu haben. Vieldeutigkeit und Diversit;t werden zumindest im Westen gefeiert und zunehmend eingefordert. Doch explizit ausgespielte Ambivalenz provoziert auch hier nach wie vor. Ein aktuelles Beispiel ist Kim de l’Horizons Roman Blutbuch, der 2022 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und zum Bestseller wurde, gerade weil er davon erz;hlt, wie grunds;tzliche Ordnungskategorien fragw;rdig werden, aber gerade deshalb auch Irritationen ausl;st. Die nonbin;re Erz;hlinstanz des Romans schildert sich einmal als Kind vor dem Spiegel: «Das Kind fragt sich. Wann muss man sich entscheiden. Ob man Mann oder Frau wird?» Das Ich entzieht sich dieser Entscheidung und verschreibt sich Sprachmagie und «Hexenspr;chen». Es bem;ht ein Sprechen, das nicht klassifizierend oder rationalisierend ist, sondern auf poetische Fluidit;t abzielt. Denn das Funktionieren der (Geschlechter-)Differenz wird zwar im Erz;hlen in Frage gestellt, noch viel wirksamer aber thematisiert Kim de l’Horizon die Ambivalenz der Sprache selbst, indem der Text um Doppelbedeutungen kreist, die er durch das helvetisch gef;rbte Erz;hlen sichtbar macht: Buch meint auch (berndeutsch) Bauch oder Buche (der Baum); Meer steht auch f;r (berndeutsch) M;re, die in der Erz;hlung sowohl mit Geborgenheit wie mit Kontrolle und Angst assoziiert wird.

Blutbuch zeigt also die emotionalen Ambivalenzen des Ich-Erz;hlers gegen;ber seiner Familie. Nicht zuf;llig spielen auch hier die biografischen «Schuldgef;hle» gegen;ber der Mutter und der Gro;mutter eine Rolle. Zudem zeigt es die in der Sprache bestehenden semantischen Ambivalenzen. Diese werden durch die implizite Ambivalenz von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch noch zugespitzt.

Wie Kafka und aktuell Kim de l’Horizon zeigen, gibt es Entscheidungen, deren Dringlichkeit nur scheinbar sind, weil sie bestehende Ordnungen immer st;tzen. Sie nicht zu treffen, nicht den vermeintlich unausweichlichen Anforderungen von Gesellschaft, Politik oder Familie nachzukommen und auf einem vielleicht auch nur tempor;ren Zugleich sich rational ausschlie;ender Bedeutungen zu bestehen, kann ein kreativer Prozess sein, diese Gesellschaft und uns selbst neu zu sehen und schlie;lich auch anderes zu handeln. Wir ben;tigen nicht mehr Ambivalenztoleranz, wie es manchmal hei;t, vielmehr ben;tigen wir Verfahren, um die Ambivalenz in und um uns besser wahrzunehmen, zu beschreiben und zu nutzen.


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