Von Geschichte besessen

Von Geschichte besessen. Putins (selbst)zerst;rerische Geschichtspolitik im Krieg gegen die Ukraine
Kuindzhi Art Museum in Mariupol; April 2022; Quelle: artnet.com
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Geschichten der Gegenwart Reizw;rter Gespr;che Lesezeichen English Articles
 
Im Geschichtsbild Putins und eines gro;en Teils der russischen Bev;lkerung ist kein Platz f;r die Ukraine als eigenst;ndige kulturelle und politische Gr;;e – und damit auch nicht in der Gegenwart. Dieses katastrophale Geschichtsbild ist ;lter als der aktuelle Krieg.

9. November 2022 Lesezeit ca. 13 Minuten
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Georgiy Kasianov
Georgiy Kasianov
Georgiy Kasianov ist Professor an der Maria-Curie-Sk;odowska-Universit;t in Lublin und Leiter des dortigen Laboratory of International Memory Studies. Er forscht und publiziert zur Geschichte der Ukraine vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, zu Theorien der Nation und des Nationalismus, zur Ideengeschichte und Erinnerungspolitik. J;ngst erschien von ihm „Memory Crash: Politics of History in and around Ukraine, 1980s-2010s” (CEU Press, 2022).
Sein Interesse an Geschichte hat Vladimir Putin bereits am Anfang seiner Pr;sidentschaft demonstriert. Im November 2003 traf er sich mit Historikern, um ihnen die Unzul;ssigkeit der „Politisierung“ des Schulfachs Geschichte auseinanderzusetzen, und rief sie dazu auf, in den Schulb;chern nur solche Fakten darzulegen, die „bei jungen Menschen Stolz auf ihr Land wecken“. Wie durch einen Zufall hatte das russische Bildungsministerium nur zwei Tage zuvor die Zulassung f;r das recht popul;re Geschichts-Lehrbuch von Igor’ Doluckij zur;ckgezogen, das eine durchaus kritische Perspektive auf die Sowjetperiode einnahm.

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Seitdem hat Putin sich immer wieder ins Gefilde der russischen Geschichte begeben. Mal lie; er sich ;ber Lehrb;cher aus, mal ;ber ihre Autor:innen (darunter diejenigen, die seiner Meinung nach von „ausl;ndischen F;rdergeldern“ abh;ngig seien), mal dar;ber, dass das historische Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt werden m;sse. Es ging ihm immer wieder um Stolz, nationale Einheit und weitere typische Denkbilder des durchschnittlichen Patrioten. Am Anfang seiner Pr;sidentschaft hatte Putin zun;chst noch f;r eine gewisse Pluralit;t in der schulgeschichtlichen Praxis pl;diert (wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen), doch schon bald stand die Idee des „einheitlichen Lehrbuchs“ im Zentrum, die zu einem landesweiten historisch-kulturellen Standard f;hren sollte. Daraus wurde eine Zwangsjacke, die in den prinzipiellen Fragen keine unterschiedlichen Lesarten mehr zulie;.

Man k;nnte das Interesse des Souver;ns an der Geschichtsdidaktik f;r durchaus nachvollziehbar halten: Das Land ist gro;, die Ethnien sind zahlreich – die naheliegendste Art, sie zusammenzuhalten, ist daher, sie zwischen die Seiten eines Schulbuchs zu pressen, auf dessen Buchdeckel steht: „Die Geschichte des Russl;ndischen Staates“. Und so geschah es dann auch.

Der Kampf um die gemeinsame Geschichte
Putin war es jedoch nicht genug, sich um geschichtspolitische Angelegenheiten im Inland zu k;mmern. Auch das Ausland r;ckte in seinen Fokus – zun;chst die benachbarten, dann auch die weiter entfernteren Staaten. Das n;chste und sein Interesse am st;rksten weckende Land war die Ukraine, die jedoch von diesem Liebhaber praktischer Geschichte, wie sich schnell herausstellen sollte, gar nicht erst als Ausland wahrgenommen wurde.

„Von 1994 bis 2020 war es die Vergangenheit, die stets an erster Stelle in der assoziativen Begriffsreihe der Russ:innen stand, die nach ihrem Bild vom russischen Volk befragt wurden.“
Schon im Jahr 2003 hatte Putin „Historikern zugestimmt“, die eine gewisse Methodologie „einheitlicher Beleuchtung“ der sowjetischen Geschichte in den GUS-Staaten vorgeschlagen h;tten. Zur selben Zeit wurde auch eine russisch-ukrainische Historikerkommission ins Leben gerufen, deren russische Teilnehmer:innen zun;chst versuchten, die Fragen der „einheitlichen Beleuchtung“ auf die Tagesordnung zu setzen. Doch bald lie;en sie von diesen hoffnungslosen Versuchen ab, da die Ukrainer:innen mit Nachdruck darauf bestanden, ihre nationale Geschichte so zu schreiben, wie sie es selbst f;r richtig hielten.


Die „orangene Revolution“ 2004; Quelle: atlanticcouncil.org

Im Jahr 2005 intensivierte sich das Interesse des Pr;sidenten f;r die Geschichte der Nachbarl;nder und ihre Lesarten. Anscheinend gab es daf;r zwei Ausl;ser: Zum einen die „Orangene Revolution“ in der Ukraine, die den Wahlsieg des von Putin aktiv unterst;tzten Viktor Janukovy; verhinderte, und zum anderen die EU-Osterweiterung, die das Baltikum und Polen umfasste.

Die neuen EU-Mitglieder brachten eine f;r das russische politische Establishment ;u;erst unangenehme Idee in den europ;ischen politischen Diskurs, n;mlich dass die Sowjetarmee ihnen nicht so sehr eine Befreiung vom Nazismus, sondern vielmehr eine neue Form der Unterjochung gebracht habe. Dazu kam die These zur Gleichsetzung der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime, die von den EU-Neuzug;ngen forciert wurde. Beim Gedenktag an den Sieg gegen NS-Deutschland am 9. Mai 2005 sagten die Pr;sidenten Litauens und Estlands ihre Teilnahme an der prunkvollen Parade demonstrativ ab. Polen hingegen wurde vom ehemaligen Armeegeneral, Ministerpr;sidenten und Staatsoberhaupt des kommunistischen Polens Wojciech Jaruzelski vertreten, das hei;t von einem Repr;sentanten eben jener neuen Unterdr;ckung, von der die Vertreter der „vom Nazismus befreiten“ Nationen nach 1990 so viel sprachen.

Es war zu diesem Zeitpunkt, dass sich in der Moskauer Geschichtspolitik ein au;enpolitischer Vektor auftat: Russland er;ffnete eine „zweite Front“ im Kampf um die richtige Geschichtsschreibung gegen praktisch alle seine Nachbarn. In den Jahren 2007 und 2008 werden die staatlichen Organisationen „Russische Welt“ (Russkij mir) und „Russland-Zusammenarbeit“ (Rossotrudni;estvo) ins Leben gerufen, deren strategische Ausrichtung auf die Schaffung einer russischen Irridenta zielte. 2007 bis 2010 tobte ein regelrechter Krieg um die historische Erinnerung, gef;hrt von Russland gegen das Baltikum und die Ukraine. Die russische UNO-Delegation startete einen propagandistischen Marathon zur Verurteilung der Glorifizierung von „Nazi-Helfern“, der sich in erster Linie gegen das Baltikum richtete und ;ber ein Jahrzehnt andauerte.


Lehrbuch f;r die 11. Klasse „Geschichte Russlands, 1900-1945“, herausgegeben von Aleksander Filippov; Quelle: urokiistorii.ru

Zur gleichen Zeit werden unter der Leitung von Aleksandr Danilov und Aleksandr Filippov Handreichungen f;r russische Geschichtslehrer:innen ausgearbeitet, die die „zivilisatorische Rolle Russland“ in den ehemaligen Grenzregionen des Imperiums, so auch im Baltikum, besonders herausstrichen. 2009 wird die ber;chtigte „Medvedev-Kommission“ ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzt, gegen die „Falsifizierung der Geschichte Russlands“ seitens des Auslandes vorzugehen. 2012 l;ste Putin sie auf, schuf jedoch sp;ter eine ;hnlich beschaffene interministerielle Kommission zur historischen Bildung.

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Die Beherrschung der Geschichte
In diesen Prozessen nahm die Ukraine einen besonderen Platz ein. Die Aktionen und die Rhetorik der russischen Regierung zeugen davon, dass die ukrainischen Aspekte der Geschichtspolitik, im Gegensatz zu baltischen oder polnischen, von Moskau als innenpolitische Angelegenheit aufgefasst wurden – allerdings nicht der Ukraine selbst, sondern Russlands. Die „gemeinsame Vergangenheit“ hatte die gemeinsame Gegenwart zu bestimmen.

Die bereits erw;hnte russisch-ukrainische Historikerkommission, 2003 auf Initiative Russlands gegr;ndet, hatte zuerst vor, die scharfen Kanten dieser „gemeinsamen Vergangenheit“ abzuschleifen. Ihr wichtigstes Ergebnis war eine von ukrainischen Historikern in russischer Sprache verfasste Geschichte der Ukraine, die zur Publikation in Russland bestimmt war. Der gewichtige Band schrieb die Geschichte der Ukraine dezidiert als diejenige eines souver;nen, vollwertigen historischen Subjekts. Die erste Auflage belief sich auf 300 Exemplare. Ob es eine zweite gab, ist unbekannt. In Russland hat dieses Werk kaum Spuren in Form von Zitaten, Verweisen oder Diskussionen hinterlassen. Immerhin war auch das Schicksal einer entsprechenden „Geschichte Russlands“, geschrieben von russischen Historikern im Rahmen desselben Projektes, in der Ukraine ;hnlich trist.

Schon vor der „Orangenen Revolution“ war der Kreml vor allem bem;ht, „separatistischen“ Tendenzen in der ukrainischen Geschichtspolitik in Bezug auf die „gemeinsame Vergangenheit“ entgegenzuwirken. Doch nachdem es nicht gelungen war, Viktor Janukovy; auf den Thron zu setzen, wurde ab 2004 ein neuer, antagonistischer Diskurs immer sichtbarer.

Bereits w;hrend des ukrainischen Pr;sidentschaftswahlkampfes 2004 lancierten russische Polittechnologen das Narrativ vom „ukrainischen Nazismus“ – wobei sie sich zunutze machten, dass sich im Umfeld von Viktor Ju;;enko Vertreter rechtsradikaler Parteien und Organisationen wie etwa „Svoboda“ befanden. Photomontagen von Ju;;enko in Nazi-Uniform auf Plakatw;nden in Doneck, die Rede von den „Naschisten“ (noch nicht bezogen auf die russische Pro-Kreml-Jugendbewegung „Na;i“, sondern auf Mitglieder der Ju;;enko-Partei „Na;a Ukrajina“) und der „orangenen Pest“ (in Anlehnung an die „braune Pest“) – all das waren die ersten Manifestationen des neuen, vom Kreml inspirierten Ukraine-Diskurses. Dabei spielten die ukrainischen Nationalisten dem Kreml objektiv in die H;nde. Sie hatten ein idealisiertes Bild der ukrainischen nationalistischen Organisationen und Anf;hrer der Zwischenkriegszeit gepflegt, und ihre Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sowie weitere Aktionen der von ihnen verehrten historischen Protagonisten, etwa ihre Beteiligung am Holocaust und das Massaker an der polnischen Zivilbev;lkerung in Volhynien im Jahre 1943, relativiert.

In den Jahren von 2007 bis 2009 entbrannte ein regelrechter Krieg um die historische Erinnerung. Russlands herrschende Klasse, ihre Propaganda-Bediensteten und ihre Clacqeure aus dem Kulturbetrieb k;mpften aktiv gegen die internationale Anerkennung des ukrainischen Holodomor als Genozid, unternahmen diplomatische Offensiven gegen die „Glorifizierung der OUN und der UPA“ (d.h. die rechtsradikale „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ und ihr milit;rischer Fl;gel), die unter Ju;;enko tats;chlich zum Teil der ukrainischen Geschichtspolitik geworden war, und etablierten zunehmend ein mediales Bild der Ukraine als eines Territoriums, das von einem wildgewordenen Nationalismus befallen sei.


Putin und Obama am NATO-Gipfel in Bukarest 2008; Quelle: loleblog.com

2008 trat Putin mit einer Erkl;rung auf, die man als programmatisch bezeichnen kann. Wir wissen nicht, welche Klassiker der russischen imperialen Geschichtsschreibung ihn dazu bewogen haben, jedenfalls war seine Rhetorik auf dem NATO-Gipfel in Bukarest erstmals deutlich von einer Revision der „gemeinsamen Vergangenheit“ im Sinne einer „Sammlung russischer Erde“ gepr;gt. Zuerst machte der erwiesene Liebhaber historischen Lesestoffes darauf aufmerksam, dass Russen ein Drittel der heutigen ukrainischen Bev;lkerung ausmachen w;rden, auf der Krym gar noch mehr. Dann tat er kund, die Ukraine sei ein k;nstlich zusammengesetzter Staat, der erst zu Sowjetzeiten geschaffen worden sei. Dann erfuhren seine Zuh;rer:innen, dass dieser Staat einige Territorien von Nachbarl;ndern erhalten habe, darunter „riesige Territorien“ von Russland. Abschlie;end lie; er verlauten, das Hineintragen der „NATO-Problematik“ in die Diskussion um die Perspektiven der Ukraine k;nne dieses Land „an den Rand der Existenz als Staat“ bringen.

Es liegt auf der Hand, dass diese Thesen die Grundlage von Putins Vorstellungen ;ber die Ukraine bilden. Die Ukraine figuriert darin als „unechter“ Staat, zusammengestoppelt aus den Flicken fremder Territorien. In dieser Eigenschaft l;uft sie Gefahr, zur Beute der b;sen NATO zu werden, anstatt in Harmonie mit Russland zusammenzuleben.

W;hrend der Pr;sidentschaft des 2010 nun doch an die Macht gekommenen Janukovy; schw;chte sich der Antagonismus um die „gemeinsame Geschichte“ ein wenig ab. Doch im September 2013 entschied sich Putin wieder einmal, der ;ffentlichkeit seine Sicht auf die Geschichte der Ukraine mitzuteilen. Und wieder war, wie f;nf Jahre zuvor, eine Bewegung der Ukraine in Richtung Westen, n;mlich ein Assoziationsabkommen mit der EU, der unausgesprochene Grund daf;r. In einem Interview f;r Associated Press teilte Putin unter anderem mit, dass Russ:innen und Ukrainer:innen ein Volk seien, getauft im selben historischen Taufbecken. Er bekundete zwar, von der ukrainischen Kultur, ihrer Musik und ihren T;nzen begeistert zu sein, und Respekt f;r den Wunsch der Ukrainer:innen nach Eigenst;ndigkeit zu hegen – doch zugleich sprach er wieder von den Territorien, die Russland der Ukraine geschenkt habe, und behauptete, erst in einem mit Russland vereinigten Staat, mit der Vereinigung „beider Teile der Rus“, habe die Ukraine ein gro;er europ;ischer Staat werden k;nnen.

Von der Eroberung der Geschichte zur Eroberung von Territorium

Majdan-Aufstand, Kyiv, Februar 2014; Quelle: spiegel.de

Trotz dieser Bekundung, er habe Respekt vor dem Wunsch der Ukrainer nach europ;ischer Integration, entfesselte Putin sogleich einen Zollkrieg mit der Ukraine und erreichte dadurch, dass die ukrainische Regierung von der Unterzeichnung des Assoziierrungsabkommens Abstand nahm. Dies f;hrte zu massiven B;rgerprotesten, die sich im Winter 2014 mit dem sogenannten Euromaidan zu einem gro;fl;chigen Aufstand gegen Janukovy; entwickelten. Das revolution;re Chaos ausnutzend, annektierte Putin die Krym und provozierte einen bewaffneten Konflikt im Donbas, der zu einem hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine anwuchs.

Geschichte und historisches Ged;chtnis wurden zu einem Bestandteil dieses Krieges. In Russland wuchs der Kult des „gro;en Sieges“ im Zweiten Weltkrieg zu einem Kult des Militarismus und einem (so von Kritikern bezeichneten) „Siegeswahn“ (pobedobesie) an, dessen radikalste Auspr;gung der Slogan „Mo;em povtorit‘“ („Wir k;nnen es wiederholen!“) war, verbunden mit der Rechtfertigung des hybriden Krieges gegen die Ukraine. Im Donbas wurde dieser Kult erfolgreich in die Idee transformiert, man w;rde dort die Sache des 9. Mai fortf;hren: Das, was „wir“ dort 1945 nicht vollendet haben, bringen wir jetzt zu Ende – den Kampf gegen Faschisten und „Bandera-Leute“. Wie wir jetzt sehen, blieb dies auch die Ideologie des vollumf;nglichen Krieges gegen die Ukraine.

Gleichzeitig entwickelte man das Thema der „historischen Territorien“ weiter. Im M;rz 2014 behauptete Putin, um die Annexion zu legitimieren, die Krym, genauso wie Territorien „S;drusslands“, sei seinerzeit illegal an die Ukraine ;bergeben worden wie ein „Sack Kartoffeln“. Dabei verga; er offenbar, dass dies auf einem Territorium geschah, wo besagtes „gemeinsames Volk“ lebte. Wenn Ukrainer und Russen ein gemeinsames Volk sind – was tut dann der „Sack Kartoffeln“ zur Sache?

Zur selben Zeit tauchte auch das „Novorossija“-Projekt auf. Im April 2014 teilte Putin bei einer Live-Schaltung im russischen Fernsehen eine weitere seiner historischer Entdeckungen mit dem Publikum, indem er Doneck, Luhansk, Char’kiv, Mykolajiv, Cherson und Odesa „Neurussland“ („Novorossija“) zuordnete; zugleich ;u;erte er sein Unverst;ndnis dar;ber, dass die Bolschewiki diese Territorien seinerzeit der Ukraine zugeschlagen h;tten. Im Oktober des Jahres wiederholte er diese liebgewonnene Lektion in historischer Geographie auf der Tagung des Valdaj-Klubs, wenngleich erg;nzt mit ritualisierten Bekundungen des Respekts vor der ukrainischen Souver;nit;t.

Als Folge dieser ;bungen entstand „Novorossija“ als politisches Projekt – vorerst bestehend aus den separatistischen Donecker und Luhansker „Volksrepubliken“. Es wurde sogar ein sogenanntes „Neurussisches Parlament“ zusammgerufen, doch das Projekt wurde vertagt – in Syrien standen dringendere Aufgaben an.

Schlie;lich war f;r den eifrigen Leser historischer Werke der Zeitpunkt gekommen, selbst zur Feder zu greifen. Im Sommer 2021 offerierte Putin der ;ffentlichkeit einen l;ngeren Essay mit dem Titel „;ber die historische Einheit der Russen und Ukrainer“, der zu einem eigenwilligen Kompendium all seiner vorhergehenden Aussagen und ;berlegungen wurde: vom gemeinsamen Volk war die Rede, von der gemeinsamen Geschichte, von den besonderen Rechten der Russen in der Ukraine, von den ukrainischen „Nationalisten-Nazisten“, von den von Russland verschenkten Territorien.

Der Essay, auf Russisch und Ukrainisch ver;ffentlicht, l;ste eine kurzzeitige Hektik in den Medien aus. Im Strudel begeisterter bis h;hnischer Kommentare huschte eine Meldung vorbei, wonach das russische Verteidigungsministerium empfohlen h;tte, den Essay des Oberbefehlhabers zur Pflichtlekt;re an den Milit;rschulen zu machen. Viele hielten dies damals f;r ein kurioses Beispiel soldatisch-b;rokratischen Gehorsams. Aus heutiger Perspektive sieht dies schon weniger kurios aus.

Die Geschichte ausl;schen – ein Land ausl;schen

Museum in Mariupol, 28.4.2022; Quelle. cbc.ca

Der Oberbefehlhaber wiederholte die Grundthesen seines Essays in einer langgeratenen Rede am 21. Februar 2022. Sie ging der blutigen Trag;die unmittelbar voraus, die nun im Eiltempo zur Horror-Farce verkommt: Der frischgebackene Popul;rhistoriker versucht sich als Regisseur eines historischen Reenactment. Er vergleicht sich mit Peter dem Gro;en und nimmt f;r sich in Anspruch, Territorien zu sammeln, w;hrend seine ideologischen Bediensteten propagandistische Klischees f;r das einzig richtige Bild der „Sonder-Milit;roperation“ fabrizieren.

Geschichtsmanie, die in ein Kriegsspiel in imaginierten und realen historischen Landschaften m;ndet – dies ist nicht blo; der Zeitvertreib eines offenbar von seinem Job gelangweilten russischen Pr;sidenten. Das individuelle Trajektorium des Historikers Putin vom Leser zum Schreiber und schlie;lich zum Rekonstrukteur deckt sich in Wirklichkeit mit dem, was ein gro;er Teil seiner Untertanen denken. Gem;; soziologischen Umfragen sind es nicht die wissenschaftlichen oder kulturellen Errungenschaften, auf die die Mehrheit der Russ:innen am meisten stolz sind, und noch nicht einmal auf die Armee (was man ihnen nicht ver;beln kann – f;r eine Armee, die in Butscha gewesen ist, kann man sich nur sch;men). Am stolzesten sind sie auf die Geschichte, die Vergangenheit. Von 1994 bis 2020 war es die Vergangenheit, die stets an erster Stelle in der assoziativen Begriffsreihe der Russ:innen stand, die nach ihrem Bild vom russischen Volk befragt wurden. Und im historischen Bewusstsein nahm wiederum der Sieg im Gro;en Vaterl;ndischen Krieg stets den ersten Platz ein.

Ein weiterer Aspekt des historischen Bewusstseins, das Putin mit seinen Anh;nger:innen teilt, ist die Abwesenheit der Ukraine und Ukrainer:innen als historische Subjekte. Die Analyse von Geschichtsschulb;chern, die in den letzten zwanzig Jahren in Russland herausgegeben wurden, zeigt eine ganze Reihe von ukrainebezogenen Themen auf, aus denen die Ukraine und die Ukrainer:innen f;rmlich herausgeschrieben worden sind.

Die Ereignisse, die in der Ukraine als Grundlage des eigenen nationalen Selbstbewusstseins gelten, sind wiederum f;r Putins Untertanen, die zur Schule gegangen sind und das Einheitsabschlussexamen in Geschichte abgelegt haben, ein fester Teil der Geschichte des russischen Staates. Sei es der Treueeid der Kosaken bei Perjaslav auf den russischen Zaren 1654, sei es die Sowjetunion – all das steht f;r die Schaffung des „einheitlichen Volkes“. Die Aufl;sung der Sowjetunion 1991 hingegen – das ist „Spaltung“ und die „gr;;te Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Entsprechend figurieren die Ukrainer:innen in diesem Geschichtsbild als d;mmliche und vertrauensselige „kleine Br;der“, als tolpatschige „Haarsch;pfe“ (so die absch;tzige russische Bezeichnung, „chochly“), die immer wieder vom gewieften „Westen“ bezirzt und auf das arme, unschuldige Russland gehetzt werden – sei es von den Polen, von den ;sterreichern, von den Deutschen, von den Amerikanern oder von der EU. Das ist das Bild, das sich im Kopf des durchschnittlichen russischen Patrioten verfestigt hat. So gesehen, ist die „Spezielle Milit;roperation“ die Wiederherstellung von Ordnung nicht einmal beim Nachbarn, sondern im eigenen Vorgarten. Da kann man auch schon mal durchj;ten und Sch;dlinge vernichten.

Das Verh;ltnis Putins, seiner Umgebung, aber auch eines bedeutenden Teils der russischen Bev;lkerung zur Vergangenheit pr;gt entscheidend ihr Handeln in der Gegenwart. In der von ihnen imaginierten Vergangenheit gibt es keine Ukraine und keine Ukrainer:innen als selbst;ndige, selbstgen;gsame kulturelle und politische Entit;t. Und deswegen darf es sie auch nicht in der Gegenwart geben. Das sind nicht blo; ideologische Spekulationen und propagandistische Windungen, sondern essenzieller Teil einer Weltanschauung, die sich von rationaler Argumentation und von moralischen Normen freimacht. Ihre Wurzeln liegen noch im 19. Jahrhundert, in der ber;hmten Formel „es gab sie nicht, es gibt sie nicht und es kann sie nicht geben“ (so das Verdikt des Zarenregimes 1863 ;ber die ukrainische Sprache) – oder noch fr;her, als man ganze Staaten liquidieren und aufteilen konnte, wie etwa Polen im 18. Jahrhundert.

So sind die Wahlm;glichkeiten der Ukrainer:innen h;chst eingeschr;nkt: entweder Teil des des gro;en russischen Volksk;rpers zu sein – oder gar nicht zu sein. Dank Putin und seinen W;hler:innen ist diese Wahl zu einer Existenzfrage geworden. Das ist sie allerdings auch f;r Russland selbst: Die Besessenheit von der „gro;en Vergangenheit“ ist, wie die Geschichte zeigt, der direkte Weg in die Katastrophe. Die Unkenntnis der Geschichte ist in dem Fall einem Verbrechen gleich. Die Unkenntnis der ukrainischen Geschichte – und ;berhaupt die Unkenntnis der Ukraine als solcher – f;hrte zur irren, verbrecherischen Entscheidung, einen Krieg nicht gegen irgendjemandem, sondern gegen einen Teil des imaginierten „gemeinsamen Volkes“ vom Zaun zu brechen.

Der Klassiker der modernen russischen Geschichtsschreibung, Vasilij Klju;evskij (1841-1911), schrieb, dass die Geschichte diejenigen bestraft, die ihre Lektionen nicht lernen. Bis zu jener Stelle hat Putin anscheinend nicht gelesen. Und er wird die Lekt;re auch kaum nachholen – schlie;lich schreibt er nun selbst.

Dieser Text wurde zuerst im russischen Online-Nachrichtenportal Meduza ver;ffentlicht. ;bersetzung aus dem Russischen von Gleb J. Albert


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