Dostojewski und die Schuld
In seinen Romanen begegnet man man Ausgestossenen, Spielern und Moerdern. Als Meister des metaphysischen Krimis laesst uns Fjodor Dostojewski in die Abgruende der menschlichen Natur blicken. Ihm zufolge sind wir alle schuldig. Das Gefuehl der Schuld ist dabei nichts Zufaelliges, sondern die Grundlage aller Existenz.
Albert Camus war ein grosser Dostojewski-Leser: In seinem Buch Der Fall erwaehnt er eine mittelalterliche Folterzelle, die er „Un-Gemach“ (malconfort) nennt. Diese ist so eng, dass der darin lebenslaenglich Gefangene weder aufrecht stehen noch liegen kann. Mit diesem Bild fuehrt uns Camus das erdrueckende Leid der Schuld vor Augen: Es ist schwierig, mit dem Gefuehl fertig zu werden, nicht richtig geliebt, schlecht gehandelt, etwas schlecht gemacht zu haben. Wir glauben, uns als moderne Menschen von alten Autoritaeten – Goettern, Vaetern, Traditionen – befreit zu haben, indem wir sie infrage stellten, leugneten, ja „umbrachten“. Doch die Schuld, die wir damit zur Tuer hinausbefoerdert zu haben meinten, ist zum Fenster wieder hereingekommen. Denn der Versuch, die groessen Anderen hinauszuwerfen, war vergeblich. Umso mehr schaemen wir uns vor den „kleinen Anderen“ und uns selbst. Sind wir der Groesse unseres Begehrens gewachsen? Sind wir des Vertrauens unserer Naechsten, unserer Kollegen, der Gesellschaft wuerdig? Warum war man heute Morgen so gestresst und hat sich den Tag dadurch verdorben, dass man immer wieder daran gedacht hat? Es ist eine Eigenheit der Schuld, dass sie sich selbst naehrt.
ECHTE UND IMAGINaeRE VERBRECHEN
Der russische Schriftsteller Dostojewski kannte den Sumpf der Schuld wie seine Westentasche. Er ist 17 Jahre alt, als er vom Tod seines Vaters erfaehrt – einem niederen Adligen und Alkoholiker, der seine Umgebung gern schikanierte. Vermutlich wurde er von seinen Leibeigenen ermordet; das juristische Verfahren dazu wird jedoch eingestellt. Angesichts dieser symbolischen Leere musste der junge Dostojewski sich fragen, wer die groessere Schuld trug: der adelige Vater, der seine Bauern tyrannisierte, oder die Untergebenen, die ihren Herrn hassten? Hat nicht auch er den Tod seines Vaters herbeigewuenscht? In einem Brief, in dem er die Ermordung seines Vaters erwaehnt, kommt er zu dem Schluss: „Der Mensch ist ein Geheimnis (…) Ich beschaeftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.“
In den folgenden Jahren steht Dostojewski den utopischen Sozialisten nahe und empoert sich ueber die Ungerechtigkeit der Leibeigenschaft, der Zensur und der Willkuer des Zaren. Doch seine Ueberzeugungen werden mit Strafen quittiert. 1849 wird er schliesslich verhaftet und zum Tode verurteilt. Am Tage der Hinrichtung selbst wird seine Strafe umgewandelt in vier Jahre Arbeitslager und anschliessend sechs Jahre Verbannung nach Sibirien. Am selben Abend schreibt er seinem Bruder: „Noch nie sind mir so reichhaltige und gesunde Vorraete an geistigem Leben aufgekeimt wie jetzt.“ Er hat seine Rettung in dieser Pruefung gefunden, als ob das Verbuessen einer Strafe ihn von einer noch grundlegenderen Schuld befreien wuerde.
Dostojewskis gesamtes Werk ist durchzogen von der Suche nach einer Antwort auf die Frage der Schuld: Woher kommt sie? Und vor allem: Wie damit umgehen? In Schuld und Suehne stellt Dostojewski die (seiner Ansicht nach vergeblichen) Versuche dar, sich ihrer zu entledigen. Der Protagonist Raskolnikow ist ein stolzer Student, der versucht, „ohne Kasuistik“ und ohne Gewissensbisse zu toeten. Er ermordet eine Wucherin und deren Schwester, um ein wenig Geld zu stehlen. Der Roman zeigt Raskolnikows langsamen Weg zur Anerkennung der eigenen Schuld. Dostojewski stellt dabei einige „entschuldigende“ Ideologien seiner Zeit an den Pranger. Eine davon, die sogenannte „Milieutheorie“, spricht jede schlechte Handlung im Namen gesellschaftlichen Leides frei. Doch Dostojewski zufolge muesse „das Laster immer noch Laster genannt“ werden. Er kritisiert auch die Psychiatrie seiner Zeit, die Verbrecher f;r nicht schuldfaehig erklaert mit der Begruendung eines „ploetzlichen Wahnsinnsanfalls“. Der junge Moerder Raskolnikow hingegen, der sich der Polizei gestellt hat, versucht gar nicht zu entkommen! Dostojewski lehnt jene Theorien ab, die Schuld als situativen Automatismus verstehen, und sieht in der Schuld mehr als nur eine situationsbedingte Verirrung.
SCHULD ALS RECHTFERTIGUNG
Als Dostojewski zehn Jahre sp;ter aus Sibirien zur;ckkehrt, ist er sich seines Erfahrungsschatzes bewusst. Anders als die gro;en Schriftsteller seiner Zeit hatte er Umgang mit dem einfachen Volk, hat dessen Abgr;nde und Sch;nheiten studiert. Er ist davon ;berzeugt, den Charakter des Verbrechers verstanden zu haben, und spricht von nun an nur noch ;ber den Unterschied zwischen der Unschuld vor dem Gesetz und der inneren Schuld, wenn er in seinen Romanen ;ber intellektuelle M;rder schreibt („Schuld und S;hne“), ;ber M;rder aus Leidenschaft (Der Idiot), ;ber Menschen, die aus politischen Gr;nden t;ten (Die D;monen), und schlie;lich ;ber Vaterm;rder (Die Br;der Karamasow). Hatte Dostojewski selbst sich etwas vorzuwerfen? Er hatte einen schwierigen Charakter und seine Feinde haben sich bem;ht, ihm die scheu;lichsten Verbrechen anzuh;ngen. Dostojewski, den der Schriftsteller Iwan Turgenew „unseren Sade“ nannte, war Gegenstand hartn;ckiger Ger;chte ;ber angebliche sexuelle Gewalt an Minderj;hrigen.
Seine Helden erinnern stark an jene Personen, die Freud „Verbrecher aus Schuldgef;hl“ genannt hat. In Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit (1915/16) mutma;te Freud, dass einige verbotene Handlungen begangen werden, „weil mit ihrer Ausf;hrung eine seelische Erleichterung f;r den T;ter verbunden war“. Das Verbrechen w;re somit nicht die Ursache f;r das Schuldgef;hl, sondern w;rde selbiges a posteriori rechtfertigen. F;r Freud liegt der Ursprung dieses Gef;hls im ;dipuskomplex. Betrachten wir als Beispiel Die Br;der Karamasow: Der Roman erz;hlt vom Mord an Fjodor, einem lasterhaften Gutsbesitzer in der Provinz. Wer tr;gt die Schuld daran? Sein ;ltester Sohn, Dmitri, eine leidenschaftliche Seele, f;hlt sich um sein Erbe betrogen und steht in sexueller Konkurrenz zum Vater. Iwan, der verzweifelte Intellektuelle, verachtet den skrupellosen Genussmenschen Fjodor. Smerdjakow hasst den Vater, der ihn nie anerkannt hat. Aljoscha, der J;ngste, scheint nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun zu k;nnen; doch mit seinem sensiblen Wesen sch;mt er sich f;r seinen Vater. Jeder Sohn kann sich vorwerfen, den Tod des Vaters herbeigew;nscht – und sogar indirekt daran mitgewirkt zu haben. F;r Freud enth;llt sich hier das Mysterium der Schuld. In seinem Essay „Dostojewski und die Vatert;tung“ schreibt er: „Der Vatermord ist nach bekannter Auffassung das Haupt- und Urverbrechen der Menschheit wie des einzelnen. Er ist jedenfalls die Hauptquelle des Schuldgef;hls (…) und darum sind bis auf die Kontrastfigur des Aljoscha alle Br;der gleich schuldig.“
DIE LUST DER ;BERSCHREITUNG
Freud erfasst dabei allerdings nicht die Originalit;t von Dostojewskis Denken. Denn Dostojewski gelang in seinem letzten Roman die konzeptuelle Meisterleistung, einen Ausweg aus dem Verlies des „Un-Gemachs“ aufzuzeigen. Zun;chst muss man sehen, dass alle Br;der, ohne Ausnahme, schuldig sind. Dmitri war nur einen Schritt davon entfernt, zur Tat zu schreiten. Iwan, der vom Problem des B;sen besessen ist, hat sich ein komplexes totalit;res System zurechtgelegt, das von der Figur des Gro;inquisitors beherrscht wird, welcher als wachsamer Vormund einer verdummten Menschheit die Last der Schuld abnimmt. Er tr;gt zu dem Mord an seinem Vater durch stillschweigende Ermutigungen bei. Smerdjakow f;hrt ihn aus, um in der Familie Anerkennung zu finden. Auch Aljoscha ist schuldig. Er h;tte Iwans Abgleiten in den Wahnsinn verhindern k;nnen, wenn er sich die M;he gemacht h;tte, bei der Erz;hlung ;ber den Gro;inquisitor richtig hinzuh;ren. Doch er begn;gt sich damit, darin eine Anschuldigung gegen die katholische Kirche zu sehen. Sind also alle schuldig? Ja. Doch bei Dostojewski ist nicht der ;dipuskomplex die Quelle des ;bels. Es ist unsere ununterdr;ckbare Lust an der ;berschreitung von Geboten, die wiederum ein Kind unserer Freiheit ist. In Dostojewskis Romanen ist niemand unschuldig. Die Kinder begehen wie ihre Eltern gern das B;se um des B;sen willen, „einfach so“, „aus Spa;“. Auch die seltenen positiven Figuren m;ssen alle die Wirren des B;sen durchleben, welches sie aktiv, durch Unterlassung oder in Gedanken vollbringen.
Diese universale Schuld ist jedoch gleichzeitig der Schl;ssel zur L;sung. So h;lt der M;nch Sossima, die Lichtgestalt des Romans Die Br;der Karamasow, die weisen Worte seines Bruders fest: „jeder von uns ist vor allen anderen schuldig, und ich am allermeisten“. Dostojewski schl;gt vor, das Prinzip der Schuld zu verallgemeinern und es zur Grundlage der intersubjektiven Beziehungen zu machen. Bekanntlich sch;tzte Immanuel Kant die G;ltigkeit einer moralischen Maxime danach ein, ob sie geeignet sei, zu einer allgemeinen Regel erhoben zu werden: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZE werden sollte.“ Dostojewski schl;gt eine Verallgemeinerung des Schuldgef;hls vor. Wenn es unser Schicksal ist, schuldig zu sein, bejahen wir unsere Schuld vor anderen und entledigen uns so der inneren Qualen. Das bedeutet keine Befreiung von Schuld. Weil alle Schuld tragen, hei;t das nicht, dass am Ende keiner mehr schuldig ist. Aber das Aussprechen der Schuld erm;glicht die ethische Beziehung mit anderen. Der Fokus der Schuld wird umgekehrt: Statt dem Selbsthass zu dienen, wird sie zum Anlass, auf andere zuzugehen. Diese Idee wird der Philosoph Emmanuel L;vinas (1906–1995) aufnehmen, der von einer gegenseitigen Verantwortung spricht. Sich vor anderen als schuldig zu bezeichnen, impliziert Bescheidenheit, die Anerkennung der Gleichheit des anderen und die M;glichkeit zur Vers;hnung.
ETHIK DES LEBENDIGEN LEBENS
Doch auf welches innere Antriebsmotiv kann man diese Rehabilitierung der Schuld gr;nden? In dem Roman Der J;ngling wird ein von Dostojewski-Experten oft ;bersehener Begriff angesprochen, der jedoch grundlegend ist. Bei dem Roman handelt es sich um die Bekenntnisse eines jungen Mannes, der auf der Suche nach einer Richtung f;r sein Leben ist. Diese erscheint ihm in der seltsamen Vokabel des „lebendigen Lebens“, welches er so definiert: „Das lebendige Leben muss etwas unglaublich Einfaches sein, das Allt;glichste und Unverborgenste, etwas Tagt;gliches und Allst;ndliches, etwas derma;en Gew;hnliches, dass wir einfach nicht glauben k;nnen, dieses Einfache k;nnte es sein, und deshalb gehen wir schon so viele Jahrtausende an ihm vor;ber, ohne es zu bemerken und zu erkennen.“ Diese Vorstellung von einem „nicht langweiligen und fr;hlichen Leben“ bedeutet nichts anderes, als die Intensit;t des Lebens zu sp;ren – eine Erfahrung, die Dostojewski in den letzten Minuten vor seiner vermeintlichen Hinrichtung gemacht hat.
Die Freude, am Leben zu sein, muss zur Grundlage dieser gl;cklichen Schuld werden. Dieses Verst;ndnis von Schuld ist vom Christentum gepr;gt, von den Begriffen der Fleischwerdung, Verkl;rung und Wiederauferstehung. Letztlich gesteht Dostojewski jedoch, ein Kind seines Jahrhunderts zu sein, „ein Kind des Unglaubens und der Zweifelssucht“. Das Schuldeingest;ndnis gegen;ber den „kleinen Anderen“ soll auch die Schuld vor dem gro;en Anderen, vor einem rachs;chtigen Gott oder dem Gro;inquisitor, ersetzen. Die Liebe zum Leben in all seinen Details und in jedem Moment, das ist letztlich der Schl;ssel f;r Dostojewskis Denken. Dies hat er nicht in philosophischen Aufs;tzen geschrieben, sondern in Romanen, die sich gerade mit den niedersten Aspekten unseres Lebens besch;ftigen. Er verlagert den Fokus der Schuld, ohne zu versuchen, sie zu unterdr;cken. Er ruft uns nicht zu larmoyanter Reue auf, die stets im Verdacht der Scheinheiligkeit steht, sondern zu einer Bejahung des Lebens, dessen Sinn es ist, in der Welt und in anderen Menschen aufzugehen. •
KOMMENTARE
Doriano.P | Sonntag, 28. November 2021 - 13:49
Herr Eltchaninoff,
Ihrer Essay ist nicht nur grandios und raffiniert geschrieben,.....er ist einfach brillant. Die Art und die Eleganz womit Sie den Schriftsteller und Freud zusammenbringen finde ich einfach genial.
Ich habe jede Zeile aufmerksam gelesen und den Aufbau des Diskurses sehr genossen.
Vielen Dank
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