Kassandra-Syndrom
Warum Warnungen so oft in den Wind geschlagen werden
Historischer Stahlstich von Ferdinand Rothbart, 1823 - 1899, ein deutscher Illustrator. Der Stich zeigt die Figur der Kassandra aus der griechischen Mythologie.
Wie die Figuren in der griechischen Mythologie neigen auch moderne Gesellschaften dazu, ihren Kassandras kein Geh;r zu schenken. © imago / imagebroker
Ein Standpunkt von J;rgen Wertheimer · 23.06.2020
Der Brand von Notre Dame, die Verbreitung des Coronavirus oder der V;lkermord von Ruanda: Viele Trag;dien oder Katastrophen lie;en sich verhindern, h;tte man nur auf die geh;rt, die fr;hzeitig gewarnt h;tten, meint der Literaturwissenschaftler J;rgen Wertheimer.
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Aus der Sendung
Politisches Feuilleton
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Ob der Untergang der Titanic, der Brand von Notre Dame, die Verbreitung des Covid-19-Virus, die Balkankriege oder der V;lkermord von Ruanda, die Fl;chtlingskrise, privates oder kollektives Scheitern: allen diesen Ereignissen liegt dieselbe Grundstruktur zugrunde. Alle h;tten vermieden werden k;nnen, wenn man genauer hingeschaut und schneller reagiert h;tte. Alle diese „Trag;dien“ oder „Katastrophen“ wurden allein durch unser Versagen erm;glicht.
Die Verantwortung liegt also bei uns – wir selbst sind die Akteure unsers „Schicksals“. Wir sind es, die Verh;ngnisse stoppen k;nnten – wenn wir uns mental voll und ganz auf das jeweilige Geschehen einlassen, statt Bilder von dem, was wir sehen wollen, anzustarren.
Wahrnehmungsforscher zeigen, dass sich unser Gehirn um der Effizienz willen stark darauf programmiert hat, in Sekundenbruchteilen Wesentliches von – vermeintlich – Unwesentlichem zu trennen und alle Hintergrundger;usche wegzufiltern. Was im Alltag n;tzlich ist, um auf der Spur zu bleiben, kann sich in Krisensituationen als verh;ngnisvoll erweisen. Denn oft sind die ersten, f;r das weitere Geschehen entscheidenden Warnhinweise und Signale leise und kaum wahrnehmbar: Ein winziger, verr;terischer Rauchfaden auf dem Dach von Notre Dame wurde ;bersehen.
Flotten unsinkbarer Geisterschiffe
Doch selbst im Fall deutlich erkennbarer Signale verf;gen wir ;ber erstaunliche F;higkeiten des Ausblendens. Weder Treibeisschollen noch Eisbergwarnungen vermochten die Titanic von ihrem Kurs abzubringen. Man rauschte „full speed“ ins Verderben. Im Abschlussbericht ist dann vage von einer „Verkettung ungl;cklicher Zuf;lle“ die Rede. Man sollte besser von einer Kette menschlicher Fehleinsch;tzungen sprechen – das Schiff wurde als „practically unsinkable“ vermarktet.
Und es sind ganze Flotten solch „unsinkbarer Geisterschiffe“ unterwegs. Oft schwingen durchaus gewichtige Gr;nde mit, wenn es f;r uns darum geht, unberatbar zu sein. Denn wer auf eine Warnung h;rt, ist gezwungen, Position zu beziehen und unter Umst;nden aus dem Mainstream auszuscheren. Und er ist letztlich dazu gezwungen zu handeln, aktiv zu werden, w;hrend derjenige, der ein „ruhig weiter so“ propagiert, ein zun;chst weit weniger anstrengendes Leben f;hrt.
Unerw;nschte Wahrheiten
Das „Kassandra-Syndrom“ beherrscht nach wie vor unseren Alltag und diejenigen, die Warnungen aussprechen, leben gef;hrlich. Nicht nur Whistleblower wie Edward Snowden oder Chelsey Manning, die man als Verr;ter und Nestbeschmutzer diffamierte. Die Beispiele sind Legion: Anerkannte Pers;nlichkeiten werden in dem Moment zu Problemf;llen, wenn sie die Stimme gegen das Kartell des Verschweigens erheben.
So wurde der Capit;n des US Flugzeugtr;gers Brett Crozier seines Postens enthoben, als es wagte, darauf hinzuweisen, dass sein Schiff innerhalb weniger Tage zu einem Hotspot des Coronavirus werden k;nnte. Und dem chinesischen Arzt Li Wenliang wurden seine Hellsichtigkeit und sein Mut zum Verh;ngnis. Weil er es gewagt hatte, vor den eminenten Folgen des Virus zu warnen, wurde er mundtot gemacht. Wenig sp;ter war er tot.
Bevor die Gletscher und Eisberge nicht vor unseren Augen schmolzen, waren wir nicht bereit, an den Klimawandel zu glauben. Bevor George Floyd nicht im Stra;engraben vor unseren Augen erstickte, war das Thema Rassismus marginal.
Unerw;nschte Wahrheiten haben lange keine Chance auf Geh;r – und deshalb geschieht dann all das, was uns im Nachhinein immer tief „betroffen“ macht und von „Unbegreiflichem“ schwadronieren laesst.
Erst dichten wir unsere Wahrnehmung gegen die Wirklichkeit ab, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Dann beobachten und sondieren wir. Dann sind wir wieder einmal mehr fassungslos. Wann werden wir endlich begreifen und lernen, unseren eigenen Beobachtungen zu glauben, Schl;sse daraus zu ziehen und rechtzeitig zu reagieren?
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