Melancholie

Ernst Freiherr von Feuchtersleben

Melancholie

I. Morgens

Der Morgen weht mit zarten Lueften,
Und spielt mit Gras und Blatt' und Bluet',
Und haucht aus tausend suessen Dueften
Erinnerung in mein Gemuet.

Wie bald verweht des Lebens Morgen!
Kein Fruehling macht uns wieder jung;
Was bleibt uns, zwischen Pein und Sorgen,
Als du — als du — Erinnerung?

Momente kommen, gut und herzlich,
Und man vergisst das schlimme Jahr;
Ach, man gedenkt, entzueckend-schmerzlich,
Der Stunden, da man gluecklich war!

Das Leben ist ein Kranz von Blueten,
Tief zwischen Dornen eingewebt;
Nur die erringen, die sich muehten,
Nur wer geweint hat, hat gelebt.

II. Abends

Einer schwanken Wiege Schaukeln,
Bald darauf ein schmaler Schrein,
Jetzt der Morgentraeume Gaukeln,
Jetzt des Abends fahler Schein.

Stetes Werden, stetes Schwinden,
Alldurchschallendes Warum!
Stetes Trennen und Verbinden —
Fraegst du, Tor? Natur bleibt stumm.

Tausend Millionen Lichter,
Und die Nacht bleibt Finsternis;
Tausend Weise, tausend Dichter —
Und das Unglueck nur gewiss.

"Frisch! des Kummers dich entledigt!
Sanfte Ruhe! heit're Tat!"
Ach, es ist so leicht gepredigt,
Wenn man nichts erfahren hat;

Nicht erfahren, dass von Schmerzen
Selbst das Herz des Weltalls bricht,
Dass fuer edle Menschenherzen
Du nur Trost hast: falsch' Gedicht!

Quelle:
Gedichte
Ernst Freiherr von Feuchtersleben
Stuttgart und Tuebingen 1836
in der J.G. Cotta'schen Buchhandlung
http://gedichtereichesoesterreich.at
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S_2017-09-17


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