Was ich hier noch erledigen muss

"Gibt es noch etwas Wichtiges, was ich hier erledigen muss?" frage ich eine Wahrsagerin und senke die Augen, weil ich nichts h;ren will, was gegen mein Vorhaben spricht. Gedanken schie;en mir durch den Kopf: ;ber den Job bei einer privaten Schule, von dem ich gerade ein Wohnheimzimmer bezahlen kann, ;ber modebewusste Kundinnen, die meine Schneiderk;nste sch;tzen, zu meinen Freundinnen, die schon stolz ihre Kinderwagen vor sich hin schieben und schlie;lich zu meiner Mutter, die sich f;r mich immer wieder einsetzen soll mit ihren Verbindungen, sei es um bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, und mit ihrem Geld, sei es f;r den Kauf von Winterkleidung,. Die Wahrsagerin mustert mich und l;chelt: "Du bist sehr eigenwillig. Dein Leben wird dort weitergehen, wo Weinreben gedeihen. Pass auf dich beim Autofahren auf."

"Einen ausl;ndischen Brief hat unser Nachbar. Der ist bestimmt f;r dich!" schreien Nachbarskinder und klopfen an meine T;r. Aus Vorsicht halte ich mich von der Nachbarschaft fern. Sie betrinken sich und feiern, schlagen sich mit einander und schreien, sie bestehlen einander, kaufen Wodka und trinken wieder zusammen. Gerade jetzt sind sie in eine noch tiefere Trinkrunde versunken: Ihre vierzehnj;hrige Tochter wurde auf den Feldern tot aufgefunden. Ich gehe mutig im dunklen schimmeligen Treppenhaus herunter, nach dem Licht, das sich als ;ppiges Lagerfeuer direkt vor dem Hauseingang entfaltet. Der Nachbar, von den Feuerzungen angefunkelt, f;ttert stolz das Feuer mit dem trockenen Herbstlaub und Zeitungen, die die Kinder an Briefk;sten besorgen.

"Strafverf;gung," lese ich im W;rterbuch. Schon seit zwei Monaten scheitern meine Versuche, Deutsch zu lernen. Heute schlage ich eifrig jedes Wort nach, das unter der bedrohlichen ;berschrift in den strengen Zeilen steht:

"Das Hauptzollamt..." Vor meinem geistigen Auge vergegenw;rtigen sich Bilder meines Sommerurlaubs in Deutschland: Eine erschrockene Studienfreundin schaut mich durch das verschn;rkelte Altbaugitter des Schweizer Zollamts an: "Ich habe es mir nie vorstellen k;nnen, dass ich dich irgendwann im Ausland in einem Gef;ngnis besuchen w;rde." Mein Onkel dr;ngelt und schiebt mir eine Zeitung in die Hand: "Hoffentlich langweilst du dich nicht." Er tritt schuldbewusst zur;ck, weil er die ganze Familie und mich in die Schweiz fuhr. Den sch;nen Rheinfall bei Schaffhausen wollten wir anschauen, weil Lenin dort von der Kraft des Rheins f;r die Russische Revolution inspiriert wurde. Meine Tante schiebt den Onkel an die Seite: "Wirf die deutsche Wurst weg! Blo; nicht als Wurstschmugglerin in der Schweiz angeklagt werden." fl;stert sie durch die Gitter laut. Als wir die Grenze ;berquerten erz;hlte sie Witze ;ber die Russische Revolution und Lenin. Meine kleine Cousine, die diese Fahrt angeregt hatte, steht stumm im Hintergrund.

"Die Angeschuldigte... wurde von den deutschen Beh;rden zur;ckgewiesen, da sie lediglich ein Visum f;r die Schengener Staaten f;r eine einmalige Einreise besa;..." lese ich im "ausl;ndischen Brief" weiter und bringe in Erinnerung, wie bei der Passkontrolle an der Grenze meine Verwandten ihre gr;nen K;rtchen zeigten und ich meinen roten Reisepass mit dem neuen russischen Wappen dem Zollbeamten abgeben musste.

"...Bu;e - 200,00 Fr., ...Verpflegung Bezirksgef;ngnis - 23,00 Fr...." Die zwei Tage in einer Schweizer Gef;ngniszelle, die genau so gro; wie mein Wohnheimzimmer in Russland war, werden gegenw;rtig. Sie schenkten mir damals Zeit und Ruhe, die ich seit langem nicht hatte. Ich schaute die frisch gestrichenen W;nde mit wenigen Kratzgraffitis in mir nicht bekannten Sprachen an und dachte an meine Heimat. Chaotisch, wie die grauen Abschleifspuren im meinem sibirischen Wohnheimzimmer, schichteten sich die Erinnerungen an die wei;en Leinwandw;nde der Schweizer Gef;ngniszelle: All meine schmerzhaften Begegnungen, die mir das Vertrauen an mich selbst zu nehmen drohten, Gesichter der Menschen, die in einer Umbruchzeit ihre W;rde gegen Geld tauschten, und die ersch;pften Gestalten, die ihren Schmerz abgeben wollten, lie;en mich nicht schlafen. In der Stille dieser Gef;ngniszelle reifte eine Entscheidung. Der "ausl;ndische Brief", dessen ;bersetzung heute durch das Geschrei und Jaulen der Nachbarn unterbrochen wird, ist der Beweis daf;r.

"Strafmildernd kann die Vorstraflosigkeit... ber;cksichtigt werden. Insbesondere...., dass die Angeschuldigte als Lehrerin... umgerechnet einen Monatslohn von Fr. 100,- erzielt...," berichtet der "ausl;ndische Brief". Das Geld in Russland ist f;r mich gegenst;ndlich und abwesend. In Deutschland nahm ich es als pr;sent und unsichtbar wahr. Genauso irreal wirkten die sauberen Stra;en und die entspannten, gelangweilten und gleichg;ltigen Gesichter.

Ich denke daran zur;ck, wie die Zollbeamten sich am;sierten, als ich Fragen des Dolmetschers ;ber Sibirien beantwortete. Dass meine Reise von meinem Onkel bezahlt wurde und dass es in Sibirien auch Touristen gibt, brachte sie zum Stauen. ;ber das Museum "Sibirische Verbannung Lenins" schwieg ich vorsichtig. Es blieb nur die Information ;brig, dass man hier in der Taiga jagt. Die Schweizer und die deutschen Zollbeamten lachten zusammen und ;bergaben mich dann in die H;nde meiner Familie. Sofort als wir die deutsche Grenze ;berquerten, fuhr uns mein Onkel auf eine Blumeninsel am Bodensee: "F;r alle F;lle musst du aber die drei wichtigsten deutschen Worte lernen: Brot, Bier und Wurst." Meine Tante scherzte wieder: "Freiheit! Du gehst genau den Leninweg nach. Er war in Sibirien im Gef;ngnis, in der Schweiz im Urlaub und dann war er f;r die gro;en Taten bereit!"
...

Damals in der Schweiz und im Gef;ngnis erholte ich mich von der sprudelnden Energie meiner Verwandtschaft: "Aufstehen! Ausflug zum Schloss! Auf die Fahrr;der! Konzentration! Du bist nicht nach Europa zum Schlafen gekommen!" Heute, in Sibirien vermisse ich sie. Hier herrscht eine andere Art Energie: "Das Geld interessiert mich nicht, mich interessiert das gro;e Geld", sagt mir ein Taxifahrer und nimmt mir mein ganzes Geld weg.

"Hau ab, wenn du kannst! Wir w;rden das auch machen", sagen meine Freunde. Ich bummle mit meiner besten Freundin durch die herbstliche Stadt, verabschiede mich von den goldenen Pappeln Sibiriens und denke an meinen Freund, der auf mich in Deutschland wartet. Er kennt die kriminelle Perestroikaenergie und unsere obskuren Witze ;ber die Oktoberrevolution, weil er auch hier lebte.

Der Winter in Sibirien kommt fr;h. Schon seit November macht der Schnee die grauen Stra;en sauber und ruhig. Auch die Bewegung auf der durch die schmutzigen Schneebrocken verengten Schnellstra;e wird langsamer. Die gro;en Lastwagen, die Waren zwischen Moskau und der Mongolei fahren, bewegen sich auf der vereisten Fahrbahn mit ihren Schneeketten nur m;hsam.

"Du hast aber gute Nerven. Schreist du nie?" Ich h;re eine leise Stimme nach einer langen Stille im Auto. Die hohen verschneiten Tannen an der Schnellstra;e verdunkeln den sp;ten Winterabend zus;tzlich. Ich sehe das bleiche Gesicht des Taxifahrers und seine H;nde, die das Lenkrad vorsichtig drehen. Langsam rutscht der Wagen auf der Fahrbahn in unsere urspr;ngliche Fahrtrichtung. Ich lasse die Griffe am Autositz los, nach denen ich w;hrend der chaotischen Drehungen des Wagens gegriffen hatte. Ich massiere die verkrampften H;nde und Ellbogen, ziehe nochmals den Sicherheitsgurt ;ber meinen tauben K;rper. Auch jetzt funktioniert der Verschluss nicht und der Gurt knallt an die Kunststoffverkleidung ;ber meinem Kopf.
"O pfeif nur und gleich bin ich bei Dir, mein Schatz!"
"O pfeif nur und gleich bin ich bei Dir, mein Schatz!"
"O pfeif nur und gleich bin ich bei Dir, mein Schatz!"
Die Gedichtzeile von Robert Burns, die ich vor einer Minute deklamierte, um diese Fahrt schnell hinter mich zu bringen, dreht sich ohne Unterbrechung in meinem Kopf:
"O pfeif nur und gleich bin ich bei Dir..."
Ich starre schweigend auf die Tannen, die sich an der verstaubten Windschutzscheibe immer schneller vorbeiziehen.
"O pfeif nur..."
Ich schwebe zwischen zwei Welten auf der sibirischen Schnellstra;e, die mich ehemals weg von zuhause und hin zum Studium und Erwachsenenleben f;hrte. Diese Strecke war immer schon lang genug, um auf den h;ufigen Fahrten nach Hause alle meine Lebensentscheidungen der letzen zehn Jahre zu hinterfragen. Ich liebte sie, als ich mit meiner Mutter Erfolge teilen konnte, ich hasste sie, als ich Fehler und Machtlosigkeit eingestehen sollte. Heute fahre ich diese Strecke, um sie zu verlassen. Ich fahre zu meiner Mutter, um mich zu verabschieden. In zwei Tagen fliege ich nach Deutschland, wo die Weinreben gedeihen. Die Taubheit meines K;rpers wird zum Schmerz: Die Schnellstra;e hat mir wiederholt eine Chance f;r einen Neuanfang gegeben.

Erst die Zunge bringt meinen K;rper in Bewegung, die die genaue Adresse dem Taxifahrer mitteilt. Er fragt verwundert zweimal nach und bremst vertraut am Hauseingang, allen Schlagl;chern in der Dunkelheit ausweichend. Zwischen meinem Koffer und Kleinkrempel entdecke ich zwei gro;e schwere Kanister im Kofferraum, die der Taxifahrer schnell herausnimmt und den Nachbarn meiner Mutter, den illegalen Wodkaverk;ufern, ;berreicht, die auf ihn schon an der T;r warten. Das Geld f;r den geschmuggelten Alkohol wird in die Hosentasche gesteckt, zu dem Geld, das ich ihm f;r die Fahrt und f;r die Erhaltung meines Lebens bezahlte.
"O pfeif nur und gleich bin ich bei Dir, mein Schatz!"


Рецензии
Татьяна, "железяка" переводит ужасно: "...Лич маме, что F является г в себя обязательство повторно с их соединений..."
А вы могли ниже дать авторский перевод на русский язык?
С уважением, Евгений.

Евген Василенко   19.07.2015 14:49     Заявить о нарушении
На это произведение написаны 2 рецензии, здесь отображается последняя, остальные - в полном списке.