Das Maedchen und der Pappelbaum...

Seit fast hundert Jahren stehe ich schon hier. In der Zeit ist mein Stamm  maechtig geworden, die Krone  ueberragt alles andere in der Umgebung.  Meine Wurzeln  sind so tief und breit  in der Erde verwachsen, dass ich das Gefuehl habe, dass nicht ich  mich an ihr festhalte, sonder sie an mir. Meine dicken Aeste beruehren den Himmel und strecken sich schuetzend  ueber das Dach eines kleinen Hauses. Ich blinzele hinauf – es ist ein schoener Tag heute. Die  Nachmittagssonne scheint heiss, der Himmel ist wolkenlos und klar. Eine leichte Brise beruehrt kaum merklich mein Haupt, zerwuschelt die Blaetter  und zieht weiter.  Ich schaue weit  hoch ueber den Reihen Schiefergedeckter  Haeuser, die sich vertraeumt  im gruenen Laub der Baeume verstecken. So weit das Auge reicht -  Obstgaerten, Haine,  Felder…  Schoen. Die friedliche Idylle eines Dorfes.
Ein Kleinkind weint  und wird sofort beruhigt. Ein Hauch des Windes weht  leicht meine Zweige  zur Seite, und ich schaue  hinunter.  Auf einer  Bank, die  zu meinen Fuessen lehnt, sitzt eine junge Mutter und stillt ihr Kind. Sie haelt es behutsam auf ihren schlanken Armen. Nun sieht auch sie hoch und ich erkenne sie. Das Maedchen aus diesem Haus, ueber dem sich meine Krone erhebt. Ihre gruenen Augen schauen zu mir und ich sehe die Freude  am Wiedersehen  in ihnen aufleuchten. Ja, sie ist es. Ich muss geschlafen haben  damals, als sie weg ging, denn als der Fruehling mich weckte, war sie nicht mehr da. Ich kannte sie seit ihrer Geburt, als sie genau so klein war, wie das Baby auf ihrem Schoss. Wie sie Laufen und Sprechen lernte, Seilspringen und Puppenkleider  basteln. Wie sie auf dieser Bank hier  rumtaenzelte und lachte, und ihre duennen Haende zu mir ausstreckte, als sollte  ich sie zu mir hoch heben… Als sie krank wurde und ich sie durchs Fenster so hilflos in ihrem Bett liegen sah, spielte ich mit ihr, zauberte aus Schatten und Licht kleine Zwerge in mein Geaest, liess sie ein abenteuerliches Maerchen  durchleben, geheimnisvoll und spannend. Und sie glaubte daran und spielte mit, noch lange, nach dem sie wieder genesen war… Ich spendete Schatten fuer ihre Puppenpicknicke, bewahrte ihre Schaetze in einer alten Dose unter meinen Wurzeln…  Ich weiss noch, wie sie hinter dem Haus auf der Schaukel immer hoeher und hoeher flog. Wie sie zusammen  mit anderen Kindern  Fangen oder Verstecken spielte, und ihre zwei duennen  Zoepfe flogen um sie herum und kamen ihr kaum hinterher. Wie sie spaeter mit einem Buch auf dem weichen Gras neben mir lag, und von Zeit zur Zeit die Augen vom lesen  abwandte und zu mir hoch schaute… Vertraeumt und ein wenig traurig. Wovon traeumte sie damals?   
Wenn sie morgens aus dem Haus kam, gruessten mich ihre Augen – mal froehlich und neugierig, mal  fragend. Dann wanderte ihr Blick von Ast zu Ast,  durchstoeberte meine Blaetter, suchend und liebkosend zugleich. Und manchmal war  eine Sehnsucht darin, eine Vorahnung, als ob sie schon immer wusste, dass wir irgendwann Abschied von einander nehmen  muessen… Nun ist sie aber wieder da. Woran denkt sie gerade? Sind es dieselben Gedanken, wie meine..?
Das Kind ist eingeschlafen, aber sie wiegt es immer noch leicht in den Armen, so liebevoll und zaertlich, und schaut dann  stolz zu mir hoch. Sie atmet den frischen, wuerzigen Duft meiner Blaetter ein, lehnt ihren Kopf zurueck und beruehrt die dicke, voller Furchen und Knoten, Rinde. Genau so, wie damals – die weiche, warme Wange an meinem Herz… Ob sie es  schlagen hoert?
 Es wird kuehler, die Sonne  hat sich schon zum Horizont geneigt. Hier oben kann ich sie noch sehen, ihre letzten Strahlen beruehren  noch meine Blaetter, aber unten wird es schon schattiger. Die junge Mutter bringt ihr schlafendes Kind vorsichtig  zum Haus. Auf der Schwelle bleibt sie  stehen,  wendet zu mir ihren Blick und laechelt mich an.  Ist es ein neuer Abschied? Wo geht sie hin und was wird aus ihr? Werde ich sie je wieder sehen?
  Ich bin schon fast hundert Jahre alt, aber  ich habe noch Zeit, ich kann noch warten. Und ich werde warten bis sie eines Tages zu mir wiederkehrt, wenn auch nur in ihren Traeumen.   Mein Maedchen mit den gruenen Augen...



               


Рецензии
Кто пишет прозу по утрам,
Тот поступает мудро!
Известно всем, тарам-парам,
На то оно и утро!

А в рифму пишут по ночам,
В ночи творят ту сутру.
Известно всем, тарам-парам,
Готов гедихьт наутро.
:)

Адада   15.03.2015 14:29     Заявить о нарушении
Спасибо! Оч. интересно! Постараюсь придерживаться режима, может быть преуспею...
.................
)))

Аэлита-Аэлита   15.03.2015 18:41   Заявить о нарушении