Allein, ganz allein

Sehr geehrte Leser! Dieses Tagebuch hat mein 4-gradiger Grossonkel Gottlieb Jakovlevitsch Schoenmeier im Jahre 1969 geschrieben. Geboren ist er an der Wolga in der deutschen Kolonie Rosenfeld *1906. Im Jahr 1941 wurde die Familie nach Sibirien (Altai) deportiert und er kam in die Trudarmee. Nach dem Krieg 1947 ist er zur Familie zurueckgekehrt. Er starb +1977 im Dorf Rodino, Altai.

Allein, ganz allein

Wo seid ihr nun alle hingekommen, meine liebe Verwandte? An die hundert Menschen nannten sich einstmals meine Brueder und Geschwister, meine Halbbrueder und Halbgeschwister, meine Onkel und Tanten. Wo seit ihr alle jetzt/ Wo seit ihr hingekommen nach dreissig vierzig Jahren? Meldet euch! Ich will mit euch sprechen, will mit euch deutsch, in meiner lieben Muttersprache, sprechen. Ihr schweigt.

Oh, du lieber Halbbruder, liebe Halbschwester, du lieber Blutsverwandter, wie sehr sehne ich mich nach einem deutschen Wort, nach deutschem Gesang. Wie sehr sehne ich mich zur Unterhaltung in der Sprache, die meine lieben verstorbenen Eltern gesprochen haben.

Wo bist du geblieben, du lieblicher deutscher Gesang, deine herzlichen deutschen Melodien? Wie der Duft der blauen Blumenbaeume die Menschen erfreut, so wuerde heute ein troestliches deutsches Wort mich niedergeschlagenen Menschen erfreuen. Sollte ich alter Mensch es nicht noch einmal erleben, zusammen mit Verwandten ein schoenes deutsches Lied zu singen?

Heimat, Heimat, wie bist du schoen! Doch wo bist du liebe Heimat? Hier in Sibirien, im Altai? Nein, tausendmal Nein! Meine Heimat ist dort, wo die Wiege meiner Kindheit stand, dort wo meine Augen zum ersten Mal das Licht der Welt erblickten, aufwuchs, zum Mann heranwuchs, dort, wo die Gebeine meiner Eltern im Friedhof begraben sind.

Kennst du das kleine Fluesschen mit seinen steilen Ufern, in denen die Erdschwalbe und Goldamsel Loecher ausheben und ihre Nachkommenschaft ausbrueten? Wo in den Wassertuempeln die Wasserlilien bluehen und der Frosch sein lautes „quak, quak“ in die Welt hinaus ruft. Und nur diese heilige Staette kenne ich als meine Heimat an.

Mit wem kann ich von Heimat sprechen? Hier ist niemand, der mich versteht. Niemand hat eine Ahnung davon, wie teuer die Heimat ist, das Dorf, die Strasse, der Hof, wo du geboren und aufgewachsen bist. Das Vaterhaus wird einem dann teuer, wenn man es verlassen muss.

Still ruht der See
(Volkslied, Autor unbekannt, N.L. №44 vom 29/X-69)

Still ruht der See, die Voeglein schlafen,
ein Fluestern nur, man hoert es kaum.
Der Abend naht, es senkt sich nieder
auf die Natur ein suesser Traum.

Still ruht der See, durch das Gezweige
die sanfte Abendstille weht.
Die Blumen an dem Seegestade,
Sie fluestern leis: „Es ist schon Spaet“

Still ruht der See, vom Himmelsbogen
die goldnen Sterne niedersehn.
Oh, Menschenherz, gib dich zufrieden,
auch du wirst einst zur Ruhe gehn.

Unbestreitbare Tatsache.
G. J. Sch.

Gute Nacht

Schoen gute Nacht, wenn ich heim soll gehen,
Es tut mir doch der Kopf so weh.
Tut mir doch der Kopf so weh.
Schoen gute Nacht, wenn ich heim soll gehen.

Sitzen dort zwei Turbeltauben
Beieinander auf dem Ast.
Wo sich zwei Geliebten scheiden,
Dort verwelken Laub und Gras.

Laub und Gras und das mag welken,
Aber unsre Liebe nicht.
Kommst mir zwar aus meinen Augen,
Aus meinem Herzen aber nicht.

Haben oft beieinander gesossen,
Manche ganze halbe Nacht.
Haben den suessen Schlaf gebrochen
Und in Liebe zugebracht.

Wenn ich ueber die Strasse gehe,
Schauen mich die Leute an.
Aus meinen Augen fluessen Traenen,
Weil aus uns nichts werden kann.

Spielet mir ihr lieben Musikanten
Spielet uns ein Abschiedslied.
Mir und meinem Schatz zum gefallen
Weil ich Scheiden muss von ihm.

Strassenlieder
Gesungen in meiner Jugendjahren (1916 – 1926)

Haett ich dich nicht gesehen,
Wie gluecklich koennt ich sein.
Allehin es ist geschehen,
Mein Herz ist nicht mehr mein.

Denn nur die grosse Liebe
Hat es soweit gebracht
Und mir ein junges Maedel
Ins Elternhaus gebracht.

Auf der Wacht

Steh’ ich in finstrer Mitternacht
ganzeinsam auf der stillen Wacht,
So denk ich oft ans ferne Lieb,
Ob Sie mir treu und hold verblieb.

Sie ist mir treu, sie ist mir gut,
Drum bin ich froh und wohlgemut.
Mein Herz schlaegt wohl bei kalter Nacht
Wenn ich ans treue Lieb gedacht.

Des Abends bei dem Mondesschein
Geht Sie in ihr Schlafkaemmerlein
Und schickt ihr Nachtgebet zum Herrn
Fuer den Geliebten in der Fern.

Als ich zum Dienste fort gemuesst,
Hat Sie so herzlich mich gekuest,
Mit Baendern meinen Hut geschmueckt
Und weinend mich ans Herz gedrueckt.

***

Verschwunden sind geflickte Hosen

Verschwunden sind geflickte Hosen,
gesohlte Filzgaloschen auch.
Sogar wird heut schon ausgestossen,
das Hemd mit dem kompaktem Bauch.

Man sieht nun keine Kaftan-Pelze,
genaeht vom reinen groben Stoff.
Sogar die warme Fluegelkappe
verschwindet vor dem Winter noch.

Alles neu von Kopf bis Sohle,
Karakulmuetze, Extraschuh’.
Kostuem mit Hose muss man haben,
ganz neu und eine Uhr dazu.

Anders darfst du dich nicht zeigen
Im Hof, auf Strasse und Kontor.
Jeder wird dich schoen auslachen,
Kaemmst du mit altem Kleid ans Tor.

Auch das Strohdach ist verschwunden.
Wo man hinblickte auf das Dach,
sieht man Blech, Holz und Schiffer,
keines steht dem andren nach.

Statt Lehm der Boden in der Stube,
gestrichen Diele blinkendhell.
Die langen Baenke sind abhanden.
Hier ein Buffet, dort Stuehle stehn.

Petroleumlampe sieht man nirgends.
An ihrer Stell – Elektrolicht,
erhellt nun unsre warmen Zimmer,
die Strassen, nur die Hoefe nicht.

Des Glaubens Notwendigkeit
von H. Heine

Unbequemer neuer Glauben!
Wenn sie uns den Herrgott rauben,
Hat das Fluchen auch ein End' -
Himmel-Herrgott-Sakrament!

Wir entbehren leicht das Beten,
Doch das Fluchen ist vonnoeten,
Wenn man gegen Feinde rennt -
Himmel-Herrgott-Sakrament!

Nicht zum Lieben, nein, zum Hassen
Sollt ihr uns den Herrgott lassen,
Weil man sonst nicht fluchen koennt -
Himmel-Herrgott-Sakrament!

***
 
 Sie hat auch nicht einen Gramm Frauenhaftes an sich. Sie ist dem Charachter nach wahrhafte Abart einer giftigen Schlangenbrut. Mein ganzes Leben hat Sie in eine qualvolle Hoelle verwandelt. Ich kenne nicht einen froehlichen Augenblick in meinem alten Leben und habe das Lachen laengst verlernt.
 Was helft dir all dein Wohlstand in einer Mitte von Schlangengezisch und Teufelsbrut. Sie hat nichts Heiliges und spuckt auf Ehe, Familie, Ehre, Achtung und Liebe. All diese Begriffe werden von Ihr mit Fuessen getreten.
 Es reicht, denn ich bin nicht der erste, dem Sie das Leben in eine wahre Hoelle verwandelt hat!

Die erste Liebe

Gestern bekam ich einen Brief von meinem alten Freund Christian Karl Ruppel aus Kasachstan. Er ist 65 Jahre alt. Vor einigen Jahren hat er seine zweite Ehehaelfte, Elisabeth, beerdigt. Und, obzwar er nun mit einer anderen Frau bereits verheiratet ist, kann er das Lischen, seine „erste Liebe“ wie er sie nennt, bis heute nicht verschmerzen. In Gedanken und Sehnsucht nach ihr, versucht er seine Trauer, seine geschlagene Stimmung in Gedichtsform auszudruecken. Nachstehend ein Gedicht, das er mir zugesandt hat.

Neunzehnhundert sechsundzwanzig
War fuer mich ein freues Jahr.
Ich erlebte eine Liebe
Mit einem Maedchen wunderbar.

Chor:
Erste Liebe ist die beste,
Zweite brennt nicht mehr so heiss,
Oh! Das merke bleicher Juengling,
Wenn du weisst, was Liebe heist.

Sie nahm meine beiden Haende,
Legte sie auf ihre Brust.
Und mir war’s so wohl im Herzen,
Solches war mir unbewusst.

Chor: Erste Liebe usw.

Und die Lieb' wurd immer groesser,
Wurde endlich offenbar.
Und ich fragte meine Mutter
Um treten in die Ehe gar.

Chor: Erste Liebe usw.

"Nein, ach nein" sprach meine Mutter
Das ist fuer euch kein Ehepaar.
Sie katholisch, du lutherisch,
Schau dich um nach blondem Haar.

Chor: Erste Liebe usw.

Und ich riss mich von der Mutter,
Eilte meiner Liebe zu.
Ach! Da rief nun meine Mutter
"Junge, wohin eilest du?"

Chor: Erste Liebe usw.

Und ich ging vom Vatershause
Mit einem Stocken in der Hand,
Aber meine traute Liebe
Ging mit mir zur rechten Hand.

Chor: Erste Liebe usw.

So begann ein neues Leben
Mit der Lieben wunderbar,
Und ich muss es heut gestehen,
Das mein Herz zufrieden war.

Chor: Erste Liebe usw.

Und wir lebten viele Jahre
In der Lieb, in Fried und Freud
Zeugten auch fuenf guten Kinder,
Die uns machten Gram und Freud.

Chor: Erste Liebe usw.

Und sie sind noch heut am Leben,
Wuchsen in der boesen Zeit.
[Hat das jemand nicht verstanden,
Tut er uns auch wirklich leid.]

Chor: Erste Liebe usw.

Alter Mann ! Du bist nur zu bedauern.

08.11.2011 Geschrieben von Christian Karl
Ruppel geb. 1904 im Jahr 1969
In Quadratklammern zwei Zeilen von mir!


Welch ein Ereignis ?!

Habe heute das Dorf Mariental am Karaman gesehen. Wahrhaftig wie es leibt und lebte. Ich blaettere im „Neuen Leben“ №49 vom 3/XII-69. Und dort auf Seite 6 erblickte ich ein mir scheinbar bekanntes Photo. Ich schaute aufmerksamer und sah…du liebes Herrgottje! Das ist ja s’ schmale Gaessje von Mariental, wo ich einstmals gewohnt habe, sogar das Dach meiner einstigen Wohnung ist zu sehen. Hier ist ein Teil der „Brettgass“ und im fernen Hintergrunde die Kirche zu sehen. Ganz im Hintergrunde sicht man sogar ganz deutlich den sogenannten Kirgisenberg.
Ein wichtiges Ereignis; nicht wahr ?

Mein gewesener Nachbar Christian Johannes Gross hat bis heute noch nicht auf meinen Brief geantwortet. Mag er noch das Photo im „Neuen Leben“ gesehen haben? Gewiss doch. Er liebt, wie ich die Zeitung. Ich muss im mal wieder einen Brief schreiben.
8/XII-69



Hier endet das Tagebuch von Gottlieb Jakovlevitsch Schoenmeier. Weiter sind nur Wohnorte von Freunden und Verwandten, anhand zweier von ihnen ich auch ein Familienstamm des Neffen von Gottlieb Jakovlevitsch – Heinrich Friedrichovich geb. 1905 in Rosenfeld, fand! Der Neffe starb im Jahr 1974 im Dorf Alexandrovka, Kustanai, Kasachstan.

Andreas Schoenmaier, 29 Nov. 2011


Рецензии
Ich bin froh!
Ich danke Ihnen

Альтмайер Нинэль   04.03.2012 18:09     Заявить о нарушении
Dank meinem fernen Verwandten, der dieses Tagebuch gefuehrt hat!

Андрей Шенмаер   04.03.2012 19:52   Заявить о нарушении