Der Lesende

Н.Н.: литературный дневник

"Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hoerte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blaetter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten ueberschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... ueberall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Faeden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: ueber den uebervollen
glaenzenden Gaerten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hoert man das Wenige, das noch geschieht.


Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur da; ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da waechst die Erde ueber sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus."


R. M. Rilke
Aus: Das Buch der Bilder



Другие статьи в литературном дневнике: